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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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wohl in dieser Richtung nichts zu erwarten sein.» Sie stand auf, knotete
ihren Schal. «Wie dem auch sei, grüß den Jungen von mir – aber sag ihm, keine
Flüchtlinge mehr!»
    Nachdem Ann Rothley gegangen war,
holte sich Frances Somerville ihre Gartenschere und den flachen Gartenkorb und
ging zur Westterrasse hinüber, auf der windgeschützten, dem Meer abgewandten
Seite des Hauses. Einen Moment lang blieb sie stehen und blickte auf die Wiesen
und Felder hinaus, die sich bis zu den blauen Hügeln des Cheviot-Gebirges dehnten:
Hafer und Gerste, saftig grün und hochstehend, auf der langen Wiese eine Herde
frisch geschorener Leicester-Schafe. Der neue Verwalter, den Quin eingestellt
hatte, machte seine Sache gut.
    Dann ging sie über den Rasen,
öffnete eine Pforte in der hohen Mauer und trat in eine andere Welt. Die Sonne
war hell und warm, um den Lavendel summten die Bienen; der Duft nach Malven und
Jasmin kam ihr entgegen – und eine große Stille. Das unaufhörliche Tosen der
Brandung klang gedämpft, ein feines Wispern nur.
    «Na also», sagte Frances energisch
zu dem tibetanischen Mohn, der vor zwei Tagen noch unschlüssig ausgesehen
hatte, jetzt aber seine himmelblauen Blütenblätter entfaltete.
    Quins Großmutter, die schüchterne
und stille Jane Somerville, hatte den Garten angelegt. Die Tochter eines
wohlhabenden Kohlebarons hatte die Tröstungen ihres Quäkerglaubens in ihre Zwangsehe mit dem Basher
mitgenommen, und sie hatte sie nötig gehabt.
    Zwei Jahre hatte Jane schon in
Bowmont gelebt, als sie zu ihrem eigenen fassungslosen Entsetzen eines Tages
bei der regelmäßigen Versammlung ihrer Glaubensgenossen im Gemeindesaal in Berwick
das Wort ergriff.
    «Ich werde einen Garten anlegen»,
verkündete sie.
    Danach sprach sie nie wieder bei der
Versammlung, aber gleich am nächsten Tag gab sie Anweisung, die Wiese, die sich
an den Westrasen anschloß, zu entwässern. Sie reiste auf die andere Seite
Englands, um die rosenfarbenen Ziegel eines kürzlich abgerissenen alten
Herrenhauses in ihren Besitz zu bringen. Sie pflanzte Hecken an, die den Wind
abhalten sollten, baute Mauern und ließ Wagenladungen von Humus anfahren. Die
Experten wollten ihr weismachen, sie verschwende ihre Zeit; für einen Garten,
wie er ihr vorschwebte, sei das Land viel zu hoch im Norden, dem Meer viel zu
nahe. Der Basher, der auf Urlaub von seinem Schiff nach Hause kam, war wütend.
Er gebärdete sich wie ein Wilder; stellte jede Rechnung in Frage.
    Jane, die sonst so Sanfte und
Harmoniebedürftige, ließ sich nicht beirren. Sie überzog die Mauern mit Rosen,
Glyzinien und Klematis; sie ließ Pflanzen aus Gegenden kommen, wo es weit
kälter, das Klima weit rauher war als in Bowmont: Kamelien und Magnolien aus
China, Mohn und Primeln aus dem Atlasgebirge – und mischte sie mit den Blumen,
die die Dorfbewohner in ihren Bauerngärten zogen. Sie stellte eine Bank an die
Südwand und pflanzte zu beiden Seiten Sommerflieder für die Schmetterlinge.
Jahrzehnte später kam der Basher, der immer nur opponiert hatte, zum Sterben
hierher.
    Frances Somerville kniete an der
langen Rabatte nieder und vermerkte das nun schon vertraute Zwicken der
Arthritis in ihrem Knie. Das Rotkehlchen flog aus dem Mandelbäumchen herunter,
um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Aber sehr bald legte sie die Schaufel aus der
Hand und ging zu der Bank neben der Sonnenuhr. Sie setzte sich und schloß die
Augen.
    Was würde aus diesem Garten werden,
wenn Quin sein Haus tatsächlich in andere Hände geben
sollte? Horden von Menschen würden durch ihn hindurchtrampeln, das Rotkehlchen
verscheuchen, kreischend nach den Bienen und Hummeln schlagen. Überall würde
es Wegweiser geben – die kleinen Leute schienen unfähig, ohne Schilder
zurechtzukommen. Und an der hinteren Wand, wo jetzt die Pfirsiche in der Sonne
reiften, würde man zwei Hütten aufstellen. Nein – eine Hütte, in zwei geteilt;
sie hatte es in Frampton gesehen. An der einen Tür würde «Damen» stehen, an der
anderen «Herren».
    «Lieber Gott», betete Frances
Somerville laut und richtete das Wort mit ungewohnter Demut an den Herrn,
«bitte schicke sie hierher. Sie muß doch irgendwo sein – die Frau, die dieses
Haus und diesen Garten retten kann.»

6
    Der Regen fiel seit Tagesanbruch; kalt und ohne
Unterlaß. Unten auf dem Platz drängten sich die Tauben unter Maria Theresias
patinagrünen Röcken. Wien, die besetzte Stadt, hatte dem Frühling den Rücken
gekehrt.
    Ruth hatte kaum geschlafen.

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