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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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hatte, daß sie als reizlose,
unverheiratete Frau für ihn gänzlich ohne Belang war. Aber dann wurde Quin
geholt, der damals zehn war, und seiner Tante vorgestellt.
    «Ich komme, wenn du tot bist», hatte
Frances an jenem Abend gesagt – aber sie glaubte nicht
daran, daß das Ende des alten Haudegens
wirklich nahe war.
    Sie täuschte sich. Keine drei Monate
später fand man ihn tot auf einer Gartenbank, und auf seine eigene Weise hatte
er fair gehandelt; er hatte ihr aus seinem riesigen Nachlaß eine komfortable
jährliche Rente ausgesetzt. Seitdem war sie Hüterin und Verwalterin von
Bowmont, und das hieß, da Quin so häufig abwesend war, daß sie es vor
Eindringlingen schützen, vor der schleichenden Seuche des Tourismus und des
sogenannten modernen Lebens bewahren mußte.
    Sie war jetzt in ihrem sechzigsten
Jahr, eine energische Frau mit einer großen Nase und schmalen Lippen, mit
dünnem grauen Haar und stählernen blauen Augen, und sie hatte keine gute
Meinung von den Menschen. Ein verlassenes Robbenbaby, ein Lund mit gebrochenem
Flügel konnten auf Frances Somervilles Hilfe zählen; ein Mensch in ähnlicher
Notsituation konnte sich glücklich preisen, wenn er im Gesindehaus eine Tasse
Tee bekam. Früher einmal, hieß es, sei das anders gewesen. Ein schottischer
Adliger hatte um sie geworben, und sie war in sein Haus gesandt worden, um
begutachtet zu werden ... aber aus der Heirat war nichts geworden, und das
scheue, reizlose Mädchen entwickelte sich mit der Zeit zu der imposanten alten
Jungfer, die alle respektierten und niemand liebte.
    Ein Gärtnerjunge mit einem Rechen
lief über die Terrasse.
    «Du da! George!» rief Frances
Somerville, und der Junge rannte zu ihr und legte grüßend die Hand an die
Mütze.
    «Ja, Miss Somerville.»
    «Sag Turton, daß unten in der Bucht
Ausflügler sind. Sie müssen entfernt werden.»
    «Ja, Miss.»
    Der Junge lief davon, und Frances
Somerville schwenkte ihren Feldstecher zur anderen Seite der Landzunge. Hier,
im Schutz der ausgehöhlten Felsen war eine kleinere Bucht, Anchorage Bay hieß
sie, und im letzten Jahrhundert hatten Boote an dem kleinen Steg angelegt,
Fischer in den Hütten gelebt und flachgrundige Fischerboote am Strand gelegen.
    Die Zeiten waren vorbei. Quin hatte
das Bootshaus und zwei der Hütten in ein Labor und Schlafräume für seine
Studenten umbauen lassen, die er zu Feldstudien hierher mitzubringen pflegte.
Noch mehr Leute, die nicht hierher gehören, dachte sie müde und verdrossen;
noch mehr Schmutz und Geschnatter. Im letzten Jahr war eines der Mädchen im
zweiteiligen Badekostüm erschienen, und bei ihren frühmorgendlichen
Betrachtungen von Land und Meer hatte Frances Somerville durch die Gläser ihres
Feldstechers den nackten Bauch eines Mädchens aus Surbiton zu sehen bekommen.
    Der Gärtnerjunge kam zurück. «Bitte,
Miss Somerville, Mr. Turton hat gesagt, er kann sie jetzt nicht wegjagen, weil
wir zwischen den Gezeiten sind. Und er hat mir aufgetragen, ich soll Ihnen
sagen, daß Lady Rothley angerufen hat. Sie kommt heute um elf.»
    Frances Somerville preßte die
schmalen Lippen aufeinander. Die Gezeiten – dieses idiotische alte Gesetz, das
besagte, daß die Küste in der Zeit zwischen Ebbe und Flut der Allgemeinheit
gehörte. Der blanke Unsinn natürlich. Um zur Bucht hinunterzugelangen, mußten
die Leute den Grund und Boden der Somervilles überqueren – die Felder und
Wiesen hinter der Bucht gehörten alle Quin, und sie achtete stets gewissenhaft
darauf, daß die Gatter geschlossen waren.
    Einen Moment lang fühlte sie sich
alt und mutlos. Dies war nicht mehr ihre Welt. Auf der anderen Seite der
Landzunge stand die alte Festung Dunstaburgh. Am Fuß ihrer verfallenen Türme
hatte sich jetzt ein Golfplatz breitgemacht. Die Ausflügler konnten jederzeit
auch auf diesem Weg zur Bucht von Bowmont gelangen. Aussichtslos, der Kampf!
    Und Quin half ihr im Grund überhaupt
nicht. Quin hatte Vorstellungen, die zu verstehen sie sich bemühte, die ihr
aber dennoch fremd blieben. Frances Somerville liebte niemanden; für sie war es
Ehrensache, das destruktive Gefühl Liebe für immer aus ihrem Herzen verbannt zu
haben; aber Quin war Quin, und für ihn wäre sie ohne Bedenken von der nächsten
Klippe gesprungen. Dennoch hatte dieser junge Mann, den sie selbst großgezogen hatte, Vorstellungen und Ansichten,
wie sie sie nicht einmal in den sozialistischen Revoluzzerblättern zu lesen
erwartet hätte. Quin verscheuchte keinen Ausflügler von seinem

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