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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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gütiger Mann sind, dann kommen Sie bitte und holen Sie mich. > Darunter hatte sie die Adresse der Schule geschrieben, an der sie unterrichtete.
Es war ein Dorf an der Donau, in der Nähe von Dürnstein – Sie wissen schon, wo
Richard Löwenherz gefangen war.»
    «Und weiter?»
    «Der Direktor der Schule war ihr
Vater. Er war ein grausamer Tyrann. Marianne hatte noch eine ältere Schwester,
aber die hatte geheiratet und war so dem sadistischen Vater entkommen. Marianne
war ein stilles und schüchternes Mädchen und nicht besonders hübsch, und
außerdem stotterte sie leicht. Sie fand keinen Mann. Ihr Vater hatte sie
gezwungen, die Kleinen zu unterrichten, und die äfften sie natürlich alle nach.
Jedesmal wenn sie ins Klassenzimmer kam, wäre sie am liebsten gestorben.»
    Ruth machte eine Pause und sah Quin
vielsagend an, um die Spannung zu erhöhen.
    «Eines Tages, als sie gerade
Geographieunterricht gab und mit den Kindern die Flüsse Südamerikas durchnahm,
ging plötzlich die Tür auf, und ein kleiner Mann in einem dunklen Anzug und mit
einem Homburg auf dem Kopf kam herein. Er hatte eine Aktentasche dabei.
    Die Kinder fingen an zu lachen, aber
sie hörte sie gar nicht. Sie stand nur da und starrte den kleinen Mann an. Da
nahm mein Onkel Mishak seinen Hut ab – er war
damals schon ganz schön kahl, und er trug einen goldenen Zwicker – und sagte: < Sind Sie Fräulein Stichter? > Eine richtige Frage war es gar nicht, er
wußte ja, daß sie es war, aber er wartete trotzdem, bis sie nickte, und dann
sagte er: < Ich bin gekommen, um Sie zu holen. > Einfach so. Ich bin
gekommen, um Sie zu holen. Er machte seine Aktentasche auf und nahm den Brief
heraus, den er in der Flasche gefunden hatte.»
    «Und ist sie mit ihm gegangen?»
    Ruth lächelte. «Sie hat kein Wort
gesagt. Sie hat den Lappen genommen und sehr sorgfältig die Flüsse Südamerikas
von der Tafel gelöscht – den Negro und die Madeira und den Amazonas. Dann hat
sie die Kreide in die Schachtel gelegt, hat einen Schrank aufgemacht, ihren Hut
herausgenommen und aufgesetzt. Die Kinder hatten aufgehört zu kichern. Sie
sperrten plötzlich Mund und Augen auf. Aber sie ist zwischen den Bänken
hindurchgegangen, ohne sie zu sehen; sie existierten nicht mehr für sie. An der
Tür bot Onkel Mishak ihr seinen Arm, und dann gingen beide über den Hof zur
Straße hinaus, marschierten zur Donau und nahmen den Raddampfer nach Wien –
und wurden im Dorf nie wieder gesehen.»
    «Und sie sind glücklich geworden?»
    Ruth hob eine Hand zu den Augen.
«Sehr. Es war rührend, sie miteinander zu sehen – wie einer dem anderen die
Kissen aufschüttelte, den Sessel zurechtrückte – all die kleinen
Aufmerksamkeiten. Als sie starb, wollte er auch sterben, aber es gelang ihm
nicht. Da hat meine Mutter ihn zu uns geholt.»
    Wieder in der Innenstadt, zeigte ihm
Ruth den Balkon, auf den sie sich mit neun Jahren eines Nachts
splitterfasernackt in der Hoffnung hinausgestellt hatte, sie werde sich eine
Lungenentzündung holen, die sie von Schmach und Schande erlösen würde.
    «Es war die Wohnung meiner
Großtante, und ich hatte gerade gehört, daß ich in der Musikprüfung nur ein < sehr lobenswert > bekommen hatte und kein < äußerst lobenswert > .
Ach, und da ist die Bank, auf der meine Mutter saß, als die Tauben über sie
herfielen und mein Vater sie retten mußte.»
    «In Ihrer Familie scheint es viele
glückliche Ehen gegeben zu haben», bemerkte Quin.
    «Ich weiß nicht – Onkel Mishak war
glücklich, und meine Eltern waren es auch ... aber ich glaube nicht, daß bei
uns die Ehe als das betrachtet wurde, was einen glücklich macht.»
    «Was dann?»
    Ruth krauste die Stirn und wickelte
eine Haarlocke um ihren Finger. «Die Arbeit an einem Ziel – das Festhalten an
etwas, das man sich vorgenommen hatte. Geduld und Ausdauer – wie wenn man ein
Feld umpflügt. Oder wie wenn man ein Bild malt – man fügt immer wieder neue
Farben hinzu und bemüht sich, die richtige Perspektive zu bekommen. Das galt
besonders für die Frauen. Meine Tante Miriam war mit einem Mann verheiratet,
der sie dauernd betrogen hat. Immerzu hat sie meine Mutter angerufen und
gesagt, sie würde ihn umbringen. Aber als jemand ihr vorschlug, sich scheiden
zu lassen, war sie entsetzt.» Ruth blickte auf und drückte hastig eine Hand auf
den Mund. «Entschuldigen Sie – ich habe natürlich nicht von uns gesprochen. Das
waren richtige Ehen, keine Vernunftehen.»
    Ihr letzter Besuch galt dem
Stephansdom,

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