Die Morgengabe
Fensterbrett
verfehlte, nicht aber die Schale mit der duftenden Mischung von Blütenblättern
und auch nicht die beiden hübschen weißblauen Aschenbecher, die die Damen aus
Gloucestershire mitgebracht hatten.
Mitten in diesem Tohuwabohu stand
Leonie und hielt ihre Tochter umschlungen. Nein, es war mehr als eine
Umschlingung, es war eine Verschmelzung. Ihre Tränen vermischten sich mit denen
Ruths; kein Mensch hätte die beiden voneinander trennen können. Selbst für
ihren Mann mochte Leonie ihre Tochter nicht loslassen – konnte ihn nur mit
flüchtig freier Hand näher ziehen. Sie hatte in ihrem Leben viele glückliche
Momente erlebt, nie aber ein Glück von solcher Tiefe und Reinheit.
Onkel Mishak war der erste aus der
Familie, der auf die Verwüstung aufmerksam wurde, der das Lokal anheimgefallen
war: Da war Miss Violet dabei, die Tische zu säubern, Miss Maud sammelte
Scherben vom Boden auf, Mrs. Burtt lag auf den Knien und wischte. Um das Maß
des Chaos vollzumachen, war Tante Hilda, die aus ihrem Bett gesprungen war, um
Ruth den Weg zum TeaRoom zu zeigen, auch noch über den Spüleimer gefallen.
«Ach, das tut mir aber schrecklich
leid», sagte Leonie, als sie aus den Tiefen ihres Glücks emportauchte, und
bemühte sich ehrlich, Bedauern zu empfinden und den Schaden auszurechnen.
Jetzt hatte endlich Mrs. Weiss ihren
großen Augenblick. Ihr runzliges Gesicht zeigte einen Ausdruck ungewohnter
Würde, und ihre Stimme war fest und entschieden.
«Das bezahle ich», verkündete sie.
«Ich bezahle den gesamten Schaden.»
Die Damen Harper nahmen ihr Angebot
an; alle begriffen, daß die alte Frau an dem, was hier geschah, Anteil haben
mußte. Pfundnoten und Münzen ergossen sich aus der scheußlichen Börse, die aus
dem Haar ostpreußischer Pferde gemacht war. Sie bezahlte nicht für eine
Kaffeekanne, sondern für zwei; nicht für drei Kuchenteller, sondern für sechs.
Zum erstenmal seit Mrs. Weiss' Ankunft in England war die sonst stets prall
gefüllte Börse leer und ließ sich ohne Schwierigkeiten schließen. Es war Mrs.
Weiss' größte Stunde, und niemand im Tea-Room Willow neidete sie ihr.
«So!» sagte Leonie vielleicht zwanzig Minuten später.
«Jetzt erzähl! Wie bist du hergekommen?»
Die Tische waren gesäubert und neu
gedeckt, und die Damen Harper hatten frischen Kaffee serviert. Jetzt endlich
hatte Leonie sich genügend beruhigt, daß sie zuhören konnte. Sie mußte dabei
allerdings so sitzen, daß ihre Schulter mit der Ruths in Berührung war.
Ruth hatte ihre Geschichte auswendig
gelernt. Während sie jetzt zwischen ihren Eltern saß und Mishak und die Freunde
aus Wien strahlend anlächelte, sagte sie: «Ein Engländer hat mich herausgebracht,
ein Mann, der Leuten hilft, die flüchten wollen.»
«Wie in Die scharlachrote Blume?» fragte Paul Ziller beeindruckt.
«So ähnlich, ja. Aber ich darf nie
wieder mit ihm Kontakt aufnehmen. Keiner von uns darf mit ihm in Verbindung
treten. Das war die Bedingung für seine Hilfe.»
«Es war doch nichts Ungesetzliches
im Spiel?» fragte ihr Vater trotz aller glücklichen Erleichterung streng. «Keine gefälschten Papiere oder Ähnliches?»
«Nein, nein. Es war alles ganz
legal, das schwöre ich. Bei Mozarts Kopf», sagte Ruth, und ihr Vater war
beruhigt, da er wußte, welchen Rang der Komponist im Leben seiner Tochter
einnahm.
Leonie jedoch war gar nicht
beruhigt. «Aber das ist doch unmöglich! Wie sollen wir ihm denn danken?» rief
sie erregt. Unzähliges – vom selbstgebackenen Kuchen bis zu ekstatischen
Dankschreiben – fiel ihr ein, was sie diesem Mann hätte zum Dank tun können.
Sie wäre am liebsten hinausgelaufen, um diesem unbekannten Wohltäter die Füße
zu küssen.
«Es geht nicht anders, Mutter»,
erklärte Ruth. «Sonst bringen wir womöglich andere Leute in Gefahr, die er
retten könnte. Ich muß mich an die Vereinbarung halten.» Erst jetzt wagte es
Ruth, die sich in den ersten Momenten des Wiedersehens ganz ihren Eltern hatte
widmen wollen, die Frage zu stellen, die sie die ganze Zeit bedrängt hatte.
«Was ist mit Heini?» fragte sie.
Unwillkürlich hatte sie in der
jahrhundertealten Geste furchtsamer Beunruhigung die Hände auf ihr Herz
gedrückt. Als sie ihren Vater lächeln sah, atmete sie auf.
«Es ist alles in Ordnung, Kind»,
sagte Kurt Berger. «Er ist noch in Budapest, aber wir haben einen Brief von
ihm. Er kommt bald.»
Es war sehr still im Willow, nachdem die Bergers gegangen waren. Einer nach dem
anderen standen die
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