Die Morgenlandfahrt
und immer an den-
selben Abgrund gerate, ich werde eben hundert-mal neu beginnen; ich werde, wenn ich schon die Bilder nicht wieder in ein sinnvolles Ganze bringe, jedes einzelne Bildbruchstück so treu wie möglich festhalten. Und ich werde, soweit dies heute noch irgend möglich ist, dabei des ersten Grundsatzes unsrer großen Zeit eingedenk sein: niemals zu rechnen, niemals mich durch Vernunft-gründe verblüffen zu lassen, stets den Glauben stärker zu wissen als die sogenannte Wirklichkeit.
Einen Versuch, das muß ich freilich bekennen, habe ich inzwischen gemacht, meinem Ziel auf praktische und vernünftige Art näherzukommen.
Ich habe einen Jugendfreund aufgesucht, der hie r in der Stadt lebt und eine Zeitung redigiert, er heißt Lukas; er hat den Weltkrieg mitgemacht und ein Buch darüber verfaßt, das viel gelesen wird. Lukas empfing mich freundlich, ja er hatte sichtlich einp Freude daran, einen einstigen Schul-kameraden wiederzusehen. Ich habe zwei längere Unterredungen mit ihm gehabt.
Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, um was es mir gehe. Ich verschmähte dabei alle Umwege.
Offen sagte ich ihm, ich sei einer der Teilnehmer an jener großen Unternehmung, von welcher ja auch er gehört haben müsse, an der sogenannten
»Morgenlandfahrt« oder dem Bundesheerzug,
oder wie immer die große Sache damals in der Öffentlichkeit bezeichnet werden mochte. O ja, lächelte er mit freundlicher Ironie, gewiß erinnere er sich dieser Sache, in seinem Freundeskreise nenne man jene eigentümliche Episode, vielleicht ein wenig allzu respektlos, meistens den »Kinder-kreuzzug«. Man habe in seinen Kreisen diese Bewegung nicht ganz ernst genommen, man habe sie etwa einer theosophischen Bewegung oder irgendeiner Völkerverbrüderungsunternehmung gleich-gestellt, immerhin sei man über einzelne Erfolge unsrer Unternehmung sehr erstaunt gewesen, man habe mit Ergriffenheit von der todesmutigen Durchquerung Oberschwabens, von dem Triumph in Bremgarten, von der Übergabe des Tessiner Montags-Dorfes gelesen und habe zeitweise den Gedanken erwogen, ob die Bewegung sich nicht in den Dienst einer republikanischen Politik möchte abbiegen lassen. Dann allerdings sei die Sache ja anscheinend im Sande verlaufen, mehrere der einstigen Führer hätten sie verlassen, ja sich ihrer irgendwie geschämt und nicht mehr erinnern wollen, die Nachrichten seien immer spärlicher geflos-sen und hätten einander immer wunderlicher
widersprochen, und so sei das Ganze eben ad acta gelegt und vergessen worden wie so manche poli-tische, religiöse oder künstlerische exzentrische Bewegung jener Nachkriegsjahre. Damals sei ja so mancher Prophet erstanden, so manche geheime Gesellschaft mit messianischen Hoffnungen und Ansprüchen erschienen und dann wieder spurlos untergesunken.
Gut, sein Standpunkt war klar, es war der Standpunkt einer wohlwollenden Skepsis. Ähnlich wie Lukas mochten über den Bund und die Morgenlandfahrt alle jene denken, die zwar von seiner Geschichte gehört hatten, am Erlebnis selbst aber nicht beteiligt waren. Es lag mir nichts daran, Lukas bekehren zu wollen, doch gab ich ihm immerhin einige korrigierende Auskünfte, zum Beispiel daß unser Bund keineswegs eine Erscheinung der Nachkriegsjahre ist, sondern durch die ganze Weltgeschichte in einer zwar manchmal unterirdi-schen, nie aber unterbrochnen Linie läuft, daß auch gewisse Phasen des Weltkrieges nichts andres gewesen sind als Etappen unsrer Bundesgeschichte, ferner daß Zoroaster, Lao Tse, Platon, Xeno-phon, Pythagoras, Albertus Magnus, Don Qui-
xote, Tristram Shandy, Novalis, Baudelaire Mit-begründer und Brüder unsres Bundes gewesen
sind. Er lächelte dazu genau das Lächeln, das ich erwartet hatte.
»Schön«, sagte ich, »ich bin nicht gekommen, um Sie zu belehren, sondern um bei Ihnen zu lernen.
Es ist mein sehnlichstes Verlangen, nicht etwa eine Geschichte des Bundes zu schreiben (dazu wäre auch ein ganzes Heer von wohlausgerüsteten Ge-lehrten nicht imstande), wohl aber ganz schlicht die Geschichte unsrer Reise zu erzählen. Es will mir aber durchaus nicht gelingen, auch nur an die Sache heranzukommen. Es liegt nicht an der lite-rarischen Fähigkeit, diese glaube ich zu besitzen, bin übrigens hierin ohne allen Ehrgeiz. Nein, es handelt sich um folgendes: Die Wirklichkeit, welche ich samt meinen Kameraden einst erlebt habe, ist nicht mehr vorhanden, und obwohl die Erinnerungen daran das Wertvollste und Lebendigste sind, was ich besitze, scheinen
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