Die Morgenlandfahrt
»da haben wir schon einen Leo. Leo, Andreas, Seilergraben 69 a. Der Name ist selten, vielleicht weiß der Mann etwas über Ihren Leo. Gehen Sie zu ihm, er kann Ihnen vielleicht das sagen, was Sie brauchen. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Meine Zeit ist knapp, entschul-digen Sie, es hat mich sehr gefreut.«
Ich taumelte vor Verblüfftheit und Erregung, als ich seine Tür hinter mir zumachte. Er hatte recht, ich hatte nichts mehr bei ihm zu suchen.
Noch am selben Tage ging ich in den Seilergraben, suchte das Haus und erkundigte mich nach Herrn Andreas Leo. Er bewohnte ein Zimmer im dritten Stockwerk, abends und am Sonntag sei er manchmal zu Hause, tagsüber gehe er auf Arbeit. Ich fragte nach seinem Beruf. Er treibe dies und jenes, hieß es, er verstehe sich auf Nägelschneiden, Fuß-
pflege und Massage, mache auch Heilsalben und Kräuterkuren; in schlechten Zeiten, wo wenig zu tun sei, gebe er sich auch zuweilen damit ab, Hunde zu dressieren und zu scheren. Ich ging wie -
der fort und kam zu dem Entschluß, diesen Mann lieber nicht aufzusuchen oder doch ihm nichts von meinen Absichten zu sagen. Wohl aber fühlte ich große Neugierde, ihn zu sehen. Darum beobach-tete ich das Haus in den nächsten Tagen auf häufigen Spaziergängen und werde auch heute wieder hingehen, denn bisher ist es mir noch nicht geglückt, Andreas Leo zu Gesicht zu bekommen.
Ach, die ganze Sache treibt mich bis zur Verzweiflung um und macht mich dabei auch glücklich, oder doch erregt, gespannt, sie macht mir mich und mein Leben wieder wichtig, und daran hatte es sehr gefehlt.
Es ist möglich, daß jene Praktiker und Psychologen recht haben, die alles menschliche Tun aus egoistischen Trieben ableiten. Ich kann zwar nicht ganz einsehen, warum ein Mensch, der sein Leben lang einer Sache dient, der sein Vergnügen und Wohlergehen vernachlässigt und sich für irgend etwas opfert, damit wirklich das gleiche tun soll wie ein Mensch, der mit Sklaven oder mit Muni-tion handelt und die Erträge mit Wohlleben durch-bringt; aber ohne Zweifel würde ich im Wort-gefecht mit einem solchen Psychologen sofort den kürzeren ziehen und überführt werden, denn Psychologen sind ja Menschen, welche stets den länge-ren ziehen. Meinetwegen, mögen sie recht haben.
Dann ist eben auch alles das, was ich für gut und schön hielt und wofür ich Opfer brachte, nur ein egoistisches Wunschziel von mir gewesen. Bei meinem Plan, so etwas wie eine Geschichte der Morgenlandfahrt zu schreiben, sehe ich allerdings den Egoismus mit jedem Tage deutlicher: zuerst schien mir, als unternähme ich da eine mühevolle Arbeit im Dienst einer edlen Sache, aber mehr und mehr sehe ich, daß ich mit meiner Reisebeschreibung nichts andres anstrebe als Herr Lukas mit seinem Kriegsbuch: nämlich mir das Leben zu retten, indem ich ihm wieder einen Sinn gebe.
Wenn ich nur den Weg sähe! Wenn es nur einen einzigen Schritt vorwärts ginge!
»Werfen Sie Leo über Bord, befreien Sie sich von Leo!« hat Lukas mir gesagt. Ebensogut könnte ich meinen Kopf oder meinen Magen über Bord werfen und mich von ihm befreien!
Lieber Gott, hilf mir ein wenig!
IV
JETZT SIEHT WIEDER ALLES ANDERS AUS, UND
ich weiß noch nicht, ist meine Sache dadurch eigentlich gefördert worden oder nicht, aber ich habe etwas erlebt, es ist mir etwas begegnet, was ich niemals erwartet - - - oder nein, hatte ich es nicht dennoch erwartet, hatte ich es nicht vorge-fühlt, gehofft und ebensosehr gefürchtet? Ja, das hatte ich. Und doch bleibt es wunderbar und un-wahrscheinlich genug.
Ich war manche Male, zwanzigmal oder mehr, zu den mir günstig scheinenden Stunden durch den Seilergraben gegangen und viele Male am Haus Nr. 69 a vorübergeschlendert, die letzten Male immer mit dem Gedanken: »Jetzt probiere ich es noch ein einziges Mal, und wenn es nichts ist, komme ich nie wieder.« Nun, ich kam dennoch immer wieder, und vorgestern abend ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Oh, und wie ist er in Erfüllung gegangen!
Als ich mich dem Hause näherte, in dessen grau-grünem Bewurf ich nun schon jeden Sprung und Spalt kannte, hörte ich aus einem der oberen Fenster die Melodie eines kleinen Liedes oder Tanzes, eines Gassenhauers, mit den Lippen gepfiffen. Idi wußte noch nichts, aber ich horchte auf, die Töne mahnten mich, und irgendeine Erinnerung begann sich in mir aus dem Schlaf zu arbeiten. Es war eine banale Musik, aber es waren wunderbar süße, leicht und anmutig geatmete Töne, welche dieser Pfeifer mit
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