Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt

Titel: Die Morgenlandfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
seinen Lippen hervorbrachte, unge-mein reinlich, wohlig und naturhaft anzuhören wie Vogeltöne. Ich stand und horchte, bezaubert und zugleich von innen her sonderbar bedrängt, ohne aber irgendeinen Gedanken dabei zu haben.
    Oder wenn ich doch einen hatte, war es etwa der, das müsse ein sehr glücklicher und sehr liebenswerter Mensch sein, der auf diese Art zu pfeifen wisse. Manche Minuten stand ich gebannt auf der Gasse still und lauschte. Ein alter Mann ging vorbei, mit einem eingesunkenen Krankengesicht, der sah mich so stehen, horchte ebenfalls, nur einen Augenblick, dann lächelte er mir im Weitergehen verstehend zu, sein schöner weitsichtiger Greisen-blick sagte etwa: »Bleib du nur stehen, Mann, so hört man nicht alle Tage pfeifen.« Der Blick des Alten hatte mir das Gemüt erhellt, es tat mir leid, daß er weiterging. Zugleich aber merkte ich in dieser Sekunde, daß ja dieses Pfeifen die Erfüllung all meiner Wünsche sei, daß der Pfeifende Leo sein müsse.
    Es dämmerte schon, doch brannte noch in keinem Fenster Licht. Die Melodie mit ihren naiven Va-riationen war zu Ende, es wurde still. »Jetzt wird er oben Licht machen«, dachte ich, es blieb jedoch alles dunkel. Und jetzt hörte ich oben eine Tür gehen und hörte bald auch Schritte im Treppen-haus, das Haustor ging sachte auf, und es kam je -
    mand herausgegangen, und sein Gang war von
    der gleichen Art wie vorher sein Pfeifen: leicht, spielerisch, aber straff, gesund und jugendlich. Es war ein nicht großer, aber sehr schlanker Mann mit bloßem Kopf, der da ging, und jetzt erkannte ihn mein Gefühl mit Sicherheit: es war Leo, nicht nur der Leo vom Adreßbuch, es war Leo selber, unser lieber Reisekamerad und Diener Leo, der damals, vor zehn oder mehr Jahren, uns durch sein Verlorengehen so sehr in Betrübnis und Ver-legenheit gebracht hatte. Beinahe hätte ich im Augenblick der ersten Freude und Überraschung ihn angerufen. Und nun erinnerte ich mich auch, jetzt erst, daß ich sein Pfeifen ja auch damals, auf der Morgenlandfahrt, so viele Male gehört hatte.
    Es waren die Töne von damals, und wie wunderlich anders klangen sie mir doch! Ein Wehgefühl ging mir wie ein Schnitt durchs Herz: O wie anders war alles seit damals geworden, der Himmel, die Luft, die Jahreszeiten, die Träume, der Schlaf, der Tag und die Nacht! Wie tief und wie schrecklich hatte sich alles für mich verändert, wenn mich der Ton eines Pfeifenden, der Takt eines bekannten Schrittes, nur durch die Erinnerung an das verlorene Einstmals, so im Innersten treffen, mir so wohl und so weh tun konnte!
    Der Mann ging nahe an mir vorbei, elastisch und heiter trug er seinen bloßen Kopf auf bloßem Halse, der aus einem offenen blauen Hemd her-auskam, hübsch und fröhlich wehte die Gestalt die abendliche Gasse hinab, kaum hörbar, auf dünnen Sandalen oder Turnschuhen. Ich folgte ihm, ohne irgendeine Absicht, wie hätte ich ihm nicht folgen sollen! Er ging die Gasse hinab, und wenn sein Schritt auch leicht und mühelos und jugendlich war, er war doch abendlich, er war vom selben Klang wie die Dämmerung, er war befreundet und eins mit der Stunde, mit den gedämpften Lauten vom Stadtinnern her, mit dem Halblicht der ersten Laternen, welche eben zu leuchten begannen.
    In die kleinen Anlagen beim St.-Pauls-Tor bog er ein, verschwand zwischen den hohen runden Ge-büschen, und ich beeilte mich, daß er mir nicht ver-lorengehe. Da war er wieder, langsam schlenderte er unter den Fliederbüschen und Akazien hin. Der Weg schlängelte sich in zwei Schleifen durch das kleine Gehölz, ein paar Bänke stehen da am Rand des Rasens. Hier unter den Bäumen war es schon recht dunkel. Leo ging an der ersten Bank vorbei, es saß ein Liebespaar auf ihr, die nächste Bank war leer, hier setzte er sich, lehnte sich an, ließ den Kopf nach hinten hängen und schaute eine Weile in das Laub und zu den Wolken hinauf. Dann
    holte er aus einer Rocktasche eine kleine runde Dose heraus, eine Dose aus weißem Metall, stellte sie neben sich auf die Bank, schraubte den Deckel ab und begann langsam irgend etwas aus der Dose herauszufingern, das er in den Mund steckte und mit Behagen aß. Ich war indessen am Eingang des Gehölzes hin und her gegangen; jetzt näherte ich mich seiner Bank und setzte mich ans andere Ende. Er schaute auf, sah mir aus hellen grauen Augen ins Gesicht und aß weiter. Es waren ge-trocknete Früchte, ein paar Pflaumen und halbe Aprikosen. Er nahm sie eine um die andere mit zwei Fingern, drückte

Weitere Kostenlose Bücher