Die Morrigan: Wild Roses, Staffel 1, Band 3 (German Edition)
ausruhen. Das ständige Aufblitzen von Erinnerungen und das Gefühlschaos, in das sie dadurch immer wieder stürzte, waren anstrengend.
Auf einem kleinen Tischchen neben dem Sessel lag ein Buch, das ihr bekannt vorkam. Es war das Tagebuch, das sie 2014 in dem Ferienhaus gefunden und angesehen hatte. Ohne darüber nachzudenken, griff sie danach und nahm es auf den Schoß. Sie betrachtete den Einband, dann schlug sie es auf und blätterte die einzelnen Seiten um. Schnell fand sie jene mit dem Bild des Kelten wieder, das sie so beeindruckt hatte. Es war eine einfache Zeichnung, doch die schwarzen Locken des Kriegers und seine Augen, die sie direkt anzusehen schienen, ließen sie nicht los. Während sie das Bild musterte, trat Glynis an ihre Seite. Rose drehte sich zu ihr um und wies auf den Kelten. „Warum sieht er Alan so ähnlich?“
„Weil er es ist“, antwortete Glynis. „Du selbst hast dieses Bild gemalt.“
„Ich?“ Rose blickte Glynis ungläubig an. „Wie kann das sein?“ Noch während ihr die Worte über die Lippen kamen, wusste sie die Antwort. Sie seufzte. Es war nicht einfach, wenn Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht in der gewohnten Reihenfolge abliefen. Sie korrigierte ihre Frage. „Wann habe ich es gemalt?“ Dann stieß sie hervor: „Gott, ich werde bei all dem noch irre!“
Glynis legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, es ist nicht einfach. Aber du bist stark und du hast ein tapferes Herz. Ich habe immer daran geglaubt, dass ihr beide es schaffen werdet, euch von dem Fluch zu lösen.“ Glynis nahm die Hand von Roses Schulter, ging zum Kamin und zog den Stuhl, der an der Wand stand, heran. Sie setzte sich. „Du hast das Bild vor ... lass mich rechnen ... fünfzig Jahren gemalt.“
Fünfzig Jahre! Rose blickte auf die Zeichnung. Sie war also schon einmal in diesem Jahrhundert gewesen. Vor fünfzig Jahren. Es war merkwürdig, sich nicht daran erinnern zu können, wie ihre Hand den Stift geführt hatte, wie sie sich Alan vorgestellt hatte und wie daraus dieses Bild entstanden war. Ob diese Erinnerung irgendwann auch zu ihr zurückkehren würde wie die aus ihrem ersten Leben, die immer wieder vor ihrem inneren Auge aufblitzten.
„Warum kann ich mich nach einem Sprung nicht mehr an früher erinnern?“, fragte sie. „Ich meine, Alan hat mir erklärt, dass das ein Teil von Branwens Fluch ist. Aber warum erinnere ich mich dann jetzt plötzlich an Einzelheiten?“
Glynis nickte vor sich hin. Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus, wo Enora inzwischen auf der Bank saß und grübelte. Einige Sekunden betrachtete Glynis Roses Freundin, dann räusperte sie sich. „Ja. Aber frag mich nicht, warum das plötzlich so ist. Wir haben alle keine Antwort darauf.“ Sie wirkte, als hätte sie dieses Thema lieber vom Tisch gewischt.
Rose rieb sich mit den flachen Händen die Wangen. Je mehr sie über ihre Vergangenheit erfuhr, desto weniger schien sie sich selbst zu kennen. Es war ein unheimliches Gefühl, eines, das ihr Angst machte. Und so konnte es auf keinen Fall weitergehen! Sie blickte Glynis an. „Darf ich dich um etwas bitten?“
Glynis’ Schultern strafften sich voller Unbehagen. „Worum?“
„Erzähl mir, wie es dazu kam, dass Branwen mich verflucht hat!“, bat Rose, und bevor Glynis den Kopf schütteln konnte, holte sie zitternd Luft. „Bitte, Glynis: Ich muss wissen, was damals passiert ist! Ich verliere sonst noch den Verstand!“
Im ersten Moment dachte sie, Glynis würde sich weigern, aber schließlich nickte sie bedächtig. „Vielleicht ist es besser, wenn du es weißt“, murmelte sie und warf Enora einen weiteren Blick zu. Dann begann sie zu erzählen, und während sie das tat, stiegen die Erinnerungen in Rose auf ...
56 v. Chr.
„Plouharnel hat sich den Römern bereits ergeben“, sagte Alan düster. Plouharnel war das Nachbardorf von Erdeven. „Die Nächsten sind wir. Die römische Armee ist riesig. Ich kann nicht verstehen, wieso Vater und der Ältestenrat das einfach ignorieren!“ Rose lag auf Alans Brust und lauschte dem Klang seiner Stimme, während die Zweige der weißen Wildrose über ihnen sacht im Wind schaukelten. Das Wasser des Weihers plätscherte sanft am Ufersaum, und die Stimmung hätte friedlich sein können, wenn das römische Heer mit seinem Anführer Julius Cäsar nicht Stunde um Stunde näher gerückt wäre und den Frieden bedroht hätte. „Wir können sie nicht besiegen“, fuhr Alan fort. „Aber wir könnten mit
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