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Die Moselreise - Roman eines Kindes

Titel: Die Moselreise - Roman eines Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Kreuz war. Der Wein und das Blut flossen also zusammen, und der Herr Jesus hatte sehr viel zu leiden, noch mehr, als wenn er nur am Kreuz gehangen hätte.
     
    Ich schaute mir den Herrn Jesus in der Kelter sehr genau an, und dann hatte ich ihn im Kopf, ganz genau, sein starres
Gesicht, seine großen Augen, seine langen Haare, seinen grünen Schurz und die Ströme von Blut, die aus seinen beiden Händen und aus seiner Seite und aus seinen beiden Füßen quollen. Die Ströme von Blut hatten aber genau dieselbe rote Farbe wie die Trauben oder der Wein, es war ein sehr dunkles und kräftiges und schillerndes Rot, und ich schaute mir das kräftige Rot besonders genau an, und dann sagte ich Papa, dass ich den Herrn Jesus noch nie so gesehen habe, noch nie in einer Kelter und noch nie mit den Füßen die Trauben tretend. Ich fragte Papa, ob er den Herrn Jesus in der Kelter zeichnen wolle, und Papa sagte »nein«, es sei zu schwierig, den Herrn Jesus in der Kelter zu zeichnen. Da sagte ich, dass ich aber sehr gern ein Bild oder ein Foto von dem Herrn Jesus in der Kelter haben würde, und ich fragte Papa, ob ich ein Foto machen solle. Papa aber sagte wieder »nein, bitte nicht«, ich solle bitte kein Foto machen, ich solle mir vielmehr den Herrn Jesus in der Kelter genau einprägen und durch das genaue Einprägen zu einer bleibenden Erinnerung machen. Ich habe dann auch kein Foto gemacht, aber später, am Abend, als wir wieder in Ediger waren, habe ich eine Postkarte gefunden, auf der der Herr Jesus in der Kelter und die Kreuzkapelle von Ediger abgebildet waren. Papa hat mir die Postkarte gekauft, und so habe ich nun doch noch ein Foto vom Herrn Jesus in der Kelter, weil ich nämlich nicht genau weiß, ob der Herr Jesus in der Kelter für mich wirklich eine bleibende Erinnerung bleiben wird.

     
    In Ediger sind wir dann am Abend, als wir von unserem Gang in die Weinberge zurück waren, in einem sehr schönen Weinhaus zu Abend essen gegangen. Weil es noch so warm und hell war, konnten wir auf der Terrasse zu Abend essen. Wir hatten einen schönen Ecktisch, von dem aus wir direkt auf die Mosel schauen konnten. Papa hat gesagt, dass er während des Abendessens eine kleine Weinprobe mit Wein aus Ediger zelebrieren wolle, denn der heutige Tag sei unser »Tag des Weins und des Weinbergs«. Und so hat Papa während des Abendessens lauter kleine Proben Wein serviert bekommen. Die Proben waren in winzigen Gläsern, und Papa brauchte immer nur wenige Schlücke, um eine Probe zu trinken. So konnte er auch viele Proben trinken und nicht nur zwei oder drei. Papa hat zu den kleinen Proben eine Platte mit Käse und später noch einen Salat gegessen, und ich habe mir eine Platte mit gekochtem Schinken und vielen Gurken bestellt.
     
    Während unseres Abendessens und während der Weinprobe hat Papa mir dann auch gezeigt, wie das »Zelebrieren« so geht. Das »Zelebrieren« ist nämlich, wie Papa gesagt hat, kein einfaches Trinken oder Probieren des Weins, sondern ein feierliches, festliches Trinken des Weins mit allen Sinnen. Es geht so, dass man den Wein zuerst mit den Augen und dann mit der Nase erkundet. Man schaut sich also an, wie der Wein aussieht und beschreibt seine Farbe. Dann riecht man den Wein und beschreibt, wie er riecht oder duftet. Und erst dann nimmt man den ersten Schluck, und zwar einen sehr kleinen. Den sehr kleinen Schluck lässt man auf
der Zunge liegen oder »schweben«, wie Papa gesagt hat, und erst nach einer Weile lässt man ihn durch die Gurgel gleiten und abstürzen. Dann erlebt man den Nachgeschmack und nimmt rasch einen zweiten Schluck, um den Geschmack des Weins noch genauer heraus zu bekommen.
     
    Papa hat mir das »Zelebrieren« mehrmals vorgeführt, und dann immer genau beschrieben, wie der Wein aussieht, wie er duftet und wie er schmeckt. Und dann haben wir auch für mich eine Probe Traubensaft bestellt, und ich habe mir den Traubensaft angeschaut, beschnüffelt und probiert. Und dann habe ich auf meinen Notizzetteln notiert, was ich über den Traubensaft herausbekommen hatte: Er sieht »hellgelb« aus, er riecht »zart«, und er schmeckt »lieblich«.
    Wie der Wein ausschaut
    Wässerig
    Blass
    Hellgelb
    Goldgelb
    Fuchsig
     
     
    Wie der Wein riecht
    Flüchtig
    Duftig
    Fruchtig
    Blumig
    Würzig

     
Wie der Wein schmeckt
    Fein
    Süffig
    Glatt
    Markig
    Groß
    Weil wir zu Abend gegessen und gleichzeitig eine Weinprobe gemacht haben, haben wir viel länger für das Abendessen gebraucht als sonst. Ich habe

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