Die Moselreise - Roman eines Kindes
schaut sich etwas Bestimmtes länger als sonst an. Dann hat er meistens etwas entdeckt, das er zeichnen möchte. Wenn er so etwas entdeckt hat, steht sein Mund etwas offen, als wollte er gleich etwas sagen. Papa sagt dann aber meistens nichts, höchstens sagt er mal »aha!« oder »na sowas!« oder »erstaunlich!« Manchmal setzt Papa auch seine Brille auf oder ab, und manchmal putzt er sogar seine Brille. Danach zeichnet
er, und das Zeichnen geht dann sehr schnell und dauert nur ein paar Minuten.
Als Papa fertig war mit dem Zeichnen, zeigte er mir seine Zeichnung, und ich wunderte mich wieder einmal, wie genau Papa zeichnen konnte und wie schnell so etwas ging. Papa sagte aber, es sei keine richtige Zeichnung, sondern nur eine Skizze, aus der später vielleicht einmal eine richtige Zeichnung entstehen könne. Ich sagte Papa, dass bestimmt noch niemand diese Ruine so gut und genau gezeichnet habe wie er, da aber antwortete Papa, dass er wetten könne, dass es sehr viele gute Zeichner gebe, die diese Ruine bereits gezeichnet hätten und dass er nach unserer Rückkehr nach Köln einmal in einigen Büchern nachschauen werde, wer diese Ruine oder die vielen anderen Burgen an der Mosel noch alles gezeichnet habe. Papa fand diese Idee sogar so wichtig, dass er sie in sein kleines Notizbuch notierte. Das ist mir besonders aufgefallen, denn Papa notiert so etwas sonst nicht in sein Notizbuch, weil in seinem Notizbuch höchstens solche Sachen wie Adressen, Telefonnummern, Buchtitel, Weinsorten oder die Abfahrtszeiten von Zügen stehen.
(Als wir später wieder in Köln waren, hat Papa wahrhaftig in vielen Büchern nach Zeichnungen der Burgen und Orte an der Mosel gesucht, und während seines Suchens hat er, wie er gesagt hat, einen »phantastischen Fund« gemacht. Der »phantastische Fund« bestand aus Skizzen und Bildern eines englischen Malers, den Papa mehr mag als alle
anderen Zeichner und Maler. Dieser Zeichner und Maler heißt William Turner, und Papa hat in Köln ein dickes Buch gefunden, in dem die Skizzen und Zeichnungen von William Turner enthalten sind, die William Turner während einer Moselreise vor über hundertfünfzig Jahren gezeichnet und gemalt hat. Papa hat mir dann alle Skizzen und Zeichnungen, die William Turner während seiner Moselreise gemacht hat, gezeigt, und ich habe raten müssen, was auf der Skizze oder dem Bild dargestellt ist. Ich habe sehr vieles, aber nicht alles erkannt. Die Klosterruine mit Namen Stuben habe ich aber gleich erkannt, so schnell wie kaum etwas auf den anderen Skizzen.)
Der Zeichner und Maler William Turner
Der Zeichner William Turner ist Papas Lieblingszeichner, weil er sehr schnell und doch sehr genau zeichnen konnte, und das sogar während einer Reise oder von einem Schiff aus. Papa sagt, der Zeichner William Turner habe immer gleich »das Richtige« gesehen, auf den ersten Blick das Richtige und Wichtige. Und nur dieses Richtige und Wichtige habe er dann gezeichnet, und alles andere, das Unwichtige also, habe er fortgelassen. Der Zeichner William Turner lebte von 1775 bis 1851, er war auch in Köln und hat Köln gemalt und gezeichnet.
Am Mittag sind wir in Sankt Aldegund angekommen, aber wir hatten noch immer keinen großen Hunger, und so haben wir am Rhein etwas Obst gegessen und uns weiter unterhalten. Ich habe Papa gefragt, ob er schon als kleiner Junge viel gewandert sei, aber Papa hat gesagt, dass er als kleiner Junge überhaupt nicht gewandert sei, weil er damals überhaupt
keine Zeit für so etwas wie Wandern gehabt habe. Er sei aber jeden Tag zu Fuß zum Bahnhof nach W. gegangen, und das sei ein Weg von fast einer Stunde gewesen. In W. habe er den Zug nach B. genommen, und dort sei er dann noch einmal zwanzig Minuten bis zum Gymnasium zu Fuß gegangen. Er sei also jeden Tag ordentlich viel zu Fuß unterwegs gewesen, aber ein Wandern sei das natürlich nicht gewesen. Wenn er am Nachmittag wieder zu Hause auf dem Bauernhof gewesen sei, habe er mit seinen Geschwistern auf dem Feld arbeiten oder in der Gastwirtschaft aushelfen müssen. In den Ferien habe er übrigens auch auf dem Feld arbeiten oder in der Gastwirtschaft aushelfen müssen, seine Eltern hätten nämlich überhaupt kein Geld gehabt, um mit ihren vielen Kindern in die Ferien zu fahren. Man sei also immerzu zu Hause gewesen, auf dem Bauernhof und in der Gastwirtschaft an der Nister, dort habe man gearbeitet und noch einmal gearbeitet, ich könne mir gar nicht vorstellen, wie viel man damals habe
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