Die Muschelsucher
sah auf und erwiderte seinen Blick. Nach einer Weile sagte sie. »Sieht man das so sehr?«
»Nur ich sehe es. Weil ich dich so gut kenne.«
»Entschuldige. Ich schäme mich. Ich hasse mich. Warum sollte ich unzufrieden sein? Aber ich komme mir so nutzlos vor. Was tue ich eigentlich? Ich arbeite im Garten und koche. Ich denke an all die armen Frauen in Europa, und ich hasse mich, aber ich kann nichts dagegen tun. Und wenn ich losgehe und für ein paar Stücke Ochsenschwanz anstehe, die dann jemand anders kauft, denke ich, daß ich gleich einen hysterischen Anfall bekommen werde.«
»Du solltest für ein oder zwei Tage fort.«
»Fort?«
»Fahr nach London. Sieh nach dem Haus. Du kannst oben bei den Cliffords wohnen. Finde wieder zu dir selbst.« Er legte seine Hand auf die ihre, machte sie mit Erde vom Kartoffelbeet schmutzig. »Wir hören in den Nachrichten von den Bomben und sind entsetzt, aber das Grauen aus zweiter Hand ist oft schlimmer als in Wirklichkeit. Die Phantasie spielt verrückt, und man gerät in Panik. Aber in der Realität ist fast nie etwas so schlimm, wie wir es uns ausmalen. Warum fährst du nicht nach London und stellst es selbst fest?« Sophie, die schon nicht mehr ganz so mutlos dreinblickte wie eben, dachte über den Vorschlag nach. »Kommst du mit?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes. Ich bin zu alt für nichtige kleine Zerstreuungen, und nichtige kleine Zerstreuungen sind genau das, was du jetzt brauchst. Wohn bei den Cliffords, trink Tee mit Elizabeth. Laß dich von Peter zum Lunch ins Berkeley oder ins L ’Ecu de France führen. Soweit ich weiß, ist das Essen dort immer noch sehr gut, trotz der Rationierung. Ruf deine Freunde an. Geh in ein Konzert oder ins Theater. Das Leben geht weiter. Sogar im Krieg in London. Vielleicht besonders im Krieg in London.«
»Aber wird es dir auch bestimmt nichts ausmachen, wenn ich ohne dich fahre?«
»Mehr, als ich sagen kann. Es wird kein Augenblick vergehen, wo ich dich nicht vermissen werde.«
»Und dann drei ganze Tage. Könntest du es drei Tage aushalten?«
»Ja, ich kann. Und wenn du wieder da bist, kannst du mir drei Wochen lang erzählen, was du alles gemacht hast.«
»Lawrence, ich liebe dich so sehr.«
Er schüttelte den Kopf, nicht um abzuwehren oder es zu verneinen, sondern um sie wissen zu lassen, daß es nicht notwendig sei, ihm das zu versichern. Er beugte sich vor und küßte sie auf den Mund, und dann stand er auf und ging zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen.
Am Abend vor ihrer Abreise ging Sophie früh zu Bett. Doris war bei einer Tanzerei im Bürgersaal des Rathauses, und die Kinder schliefen schon. Penelope und Lawrence blieben noch auf und hörten ein Konzert im Radio, aber dann fing Penelope an zu gähnen, legte ihr Strickzeug beiseite, gab ihrem Vater einen Gutenachtkuß und ging nach oben. Die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern stand offen, und drinnen brannte noch Licht. Penelope steckte den Kopf durch die Tür. Sophie lag im Bett und las.
»Ich dachte, du wolltest einen Schönheitsschlaf halten.«
»Ja, aber ich bin zu aufgeregt und kann nicht einschlafen.« Sie legte das Buch auf die Daunendecke. Penelope ging ins Zimmer und setzte sich neben sie. »Ich wünschte, du kämest mit.«
»Nein. Papa hat recht. Du wirst allein viel mehr Spaß haben.«
»Was soll ich dir mitbringen?«
»Mir fällt nichts ein.«
»Ich werde sehen, ob ich etwas Besonderes finde. Etwas, worauf du nie gekommen wärst.«
»Das wäre schön. Was liest du da?« Sie nahm das Buch hoch. »Elisabeth und ihr deutscher Garten. O Sophie, das mußt du doch schon hundertmal gelesen haben.«
»Mindestens. Aber ich greife immer wieder danach. Es beruhigt mich. Und tröstet mich. Es erinnert mich an die Welt, die es einmal gab und die es nie wieder geben wird, wenn der Krieg zu Ende ist.«
Penelope schlug es aufs Geratewohl auf und las laut: »Ich bin wahrlich eine glückliche Frau, ich lebe mit Büchern, Kindern, Vögeln und Blumen in einem Garten und habe viel Muße, all das zu genießen.« Sie lachte und legte das Buch wieder hin. »Du hast das alles auch. Nur die Muße fehlt dir. Gute Nacht.« Sie gaben sich einen Kuß. »Gute Nacht, Liebling.«
Sie rief aus London an, und ihre Stimme klang fröhlich, und trotz des Rauschens und Knisterns in der Leitung konnte er die freudige Erregung darin sehr gut hören. »Lawrence? Ich bin’s, Sophie. Wie geht es dir, Liebling? Ja, es ist großartig. Du hast recht gehabt, es ist nicht so
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