Die Muschelsucher
schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe. Ja, natürlich gibt es Bombenschäden, in manchen Straßen fehlen ganze Häuser, es sieht aus wie scheußliche Zahnlücken, aber alle sind sehr tapfer und optimistisch und machen so weiter, als ob nichts geschehen wäre. Und es ist jede Menge los. Wir waren zu zwei Konzerten, eins davon war eine Matinee mit Myra Heß, es hätte dir bestimmt sehr gefallen! Und ich habe die Ellingtons besucht und diesen netten Jungen, Ralph, der damals studiert hat, er ist jetzt bei der Royal Air Force. Das Haus steht noch und hat allen Druckwellen getrotzt, es ist herrlich, wieder daheim zu sein, und Willi Friedmann baut im Garten Gemüse an!«
Als sie kurz innehielt, so daß er etwas einwerfen konnte, fragte er: »Was machst du heute abend?«
»Wir sind bei den Dickins zum Essen eingeladen - Peter und Elizabeth und ich. Du erinnerst dich sicher an sie, er ist Arzt und hat früher mit Peter zusammengearbeitet. sie wohnen draußen bei Hurlingham.«
»Wie kommt ihr dorthin?«
»Oh, mit dem Taxi oder mit der U-Bahn. Du solltest die U-Bahnstationen sehen, nachts schlafen Hunderte und Tausende von Menschen darin. O Liebling, es piepst schon, ich muß Schluß machen. Grüß bitte alle und bis übermorgen.«
In jener Nacht fuhr Penelope erschrocken aus dem Schlaf hoch. Da war etwas gewesen - ein Geräusch, ein Schrei. Vielleicht das Baby. Hatte Nancy geschrien? Sie horchte angestrengt, doch alles, was sie hörte, war das beängstigende Pochen ihres eigenen Herzens. Es ließ langsam nach. Dann hörte sie Schritte auf dem Flur, ein Knarren auf der Treppe, das Klicken eines Lichtschalters. Sie stieg aus dem Bett, ging hinaus und beugte sich über das Geländer. In der Diele brannte Licht. »Papa?«
Keine Antwort. Sie wandte sich um und sah in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Das Bett war zerwühlt, aber leer. Sie kehrte zur Treppe zurück und zögerte. Was tat er? War er krank? Sie horchte und hörte, wie er im Wohnzimmer hin und her ging. Dann war alles still. Er war wach, das war alles. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, tat er das manchmal: Er ging nach unten, legte ein paar Scheite nach, suchte sich ein Buch zum Lesen.
Sie ging ins Bett zurück, aber sie konnte nicht wieder einschlafen. Sie lag im dunklen Zimmer und betrachtete den grauschwarzen Himmel hinter dem Fensterviereck. Unten am Strand murmelte das auflaufende Wasser, und die langen Wellen brachen sich mit einem eindringlichen Raunen. Sie horchte auf die Geräusche des Meeres und wartete mit offenen Augen auf das Morgengrauen. Um sieben Uhr stand sie auf und ging nach unten. Er hatte das Radio angeschaltet. Es gab Musik. Er wartete auf die Frühnachrichten. »Papa.«
Er hob die Hand und gab ihr ein Zeichen, nicht weiterzureden. Die Musik verklang. Das Zeitzeichen ertönte. »Hier London. Sie hören die Siebenuhrnachrichten, gesprochen von Alvar Liddell.« Die gleichmütige und nüchterne Stimme berichtete, was geschehen war. Berichtete von dem nächtlichen Luftangriff auf London. Die Stadt war mit Brandbomben, Landminen, Sprengbomben belegt worden. In manchen Straßen brannte es noch, aber die Feuer waren unter Kontrolle. Die Hafenanlagen waren getroffen worden.
Penelope streckte die Hand aus und schaltete das Radio aus. Lawrence blickte zu ihr hoch. Er hatte seinen alten Morgenmantel von Jaeger an, und die Bartstoppeln auf seinem Kinn schimmerten weiß.
Er sagte: »Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich weiß. Ich habe gehört, wie du hinuntergegangen bist.«
»Ich habe hier gesessen und auf den Morgen gewartet.«
»Es hat schon viele Bombenangriffe gegeben. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir trinken jetzt eine Tasse Tee, und dann rufen wir in der Oakley Street an. Es ist bestimmt nichts passiert, Papa.«
Sie versuchten, ein Gespräch anzumelden, aber die Vermittlung sagte, nach dem Luftangriff von gestern nacht seien alle Leitungen nach London unterbrochen. Sie versuchten es den ganzen Morgen jede Stunde. Ohne Erfolg.
»Sophie versucht bestimmt, uns anzurufen, Papa, genauso wie wir versuchen, sie zu erreichen. Sie wird genauso nervös und unruhig sein wie wir, weil sie weiß, daß wir uns Sorgen machen.« Es war Mittag, als das Telefon endlich klingelte. Penelope, die gerade am Spülbecken stand und Gemüse für eine Suppe putzte, hörte es, ließ das Messer fallen und rannte, sich unterwegs die Hände an der Schürze abwischend, ins Wohnzimmer. Lawrence, der neben dem Apparat saß, hatte jedoch schon abgenommen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher