Die Muschelsucher
Kinder schon selbst etwas unternehmen können. Es ist überhaupt gut, daß wir alle selbst etwas unternehmen können, ohne aufeinander angewiesen zu sein. Übrigens, hättest du Lust, mit mir nach Cornwall zu fahren?« Nancy blickte sie überrascht und ungläubig an. »Nach Cornwall?«
»Ja. Ich möchte Porthkerris noch einmal wiedersehen.
Möglichst bald. Ich habe plötzlich einen unbezwinglichen Drang, noch einmal dorthin zurückzukehren. Und es wäre viel schöner, wenn jemand mitführe.«
»Aber, «
»Ich weiß. Ich bin vierzig Jahre nicht mehr dort gewesen, und es wird sich verändert haben, und ich werde niemanden mehr kennen. Aber ich möchte trotzdem hin. Um alles wiederzusehen. Warum kommst du nicht mit? Wir können bei Doris wohnen.«
»Bei Doris?«
»Ja, bei Doris. O Nancy, du wirst doch nicht Doris vergessen haben. Das ist unmöglich. Sie hat dich praktisch aufgezogen, bis du vier Jahre alt warst und wir Porthkerris verließen.« Selbstverständlich erinnerte Nancy sich an Doris. Sie hatte keine deutliche Vorstellung von ihrem Großvater, aber an Doris und ihren süßen Geruch nach Puder, ihre starken Arme und ihren weichen mütterlichen Busen erinnerte sie sich sehr gut. Doris gehörte zu ihren frühesten Kindheitserinnerungen. Sie hatte, umgeben von pickenden Hühnern und Enten, in einem Kinderrollstuhl auf der kleinen Wiese hinter Cam Cottage gesessen, während Doris Wäschestücke aufhängte, die in der frischen Brise flatterten, die vom Meer herkam. Das Bild hatte sich ihrem Gedächtnis in all seinen Nuancen eingeprägt, farbig und intensiv wie eine Illustration in einem Kinderbuch. Sie sah Doris mit ihrem wehenden Haar und ihren nach oben gestreckten Armen, sah die flatternden Laken und Kopfkissenbezüge, den kobaltblauen Himmel. »Doris lebt immer noch in Porthkerris«, fuhr Penelope fort. »Sie wohnt in einem kleinen Haus in den alten Gassen am Hafen. Wir haben es immer Downalong genannt. Und jetzt, wo die Jungen fort sind, hat sie ein Zimmer übrig. Sie lädt mich in jedem Brief ein, zu kommen und bei ihr zu wohnen. Und sie würde dich so gern wiedersehen. Sie hat geweint, als wir fortfuhren. Und du hast auch geweint, obgleich du dir vermutlich nicht bewußt gewesen bist, worum es ging.«
Nancy biß sich auf die Lippe. Bei einem alten Hausmädchen in einem schäbigen kleinen Haus in einem Kaff in Cornwall abzusteigen, war nicht das, was sie sich unter Urlaub vorstellte. Außerdem...
»Was ist mit den Kindern?« fragte sie. »Es wäre nicht genug Platz für die Kinder da.«
»Welche Kinder?«
»Melanie und Rupert natürlich. Ich könnte nicht ohne sie verreisen.«
»Um Himmels willen, Nancy, ich frage nicht die Kinder. Ich frage dich. Und warum kannst du nicht ohne sie verreisen? Sie sind alt genug, um bei ihrem Vater und Mrs. Croftway zu bleiben. Gönn dir mal etwas. Verreise ohne sie. Es wäre nicht für lange. Nur ein paar Tage, höchstens eine Woche.«
»Wann willst du fahren?«
»Bald. Sobald ich kann.«
»O Mutter, es ist so schwierig. Ich habe so schrecklich viel um die Ohren. das Kirchenfest planen und die Konferenz der Konservativen. Ich muß an dem Tag eine Lunch-Party geben. Und dann Melanies Sommerlager vom Reitclub.«
Als ihr die Vorwände ausgingen, wurde ihre Stimme brüchig, und sie räusperte sich. Penelope sagte nichts. Nancy nahm noch einen Schluck von dem stärkenden Drink und blickte ihre Mutter verstohlen von der Seite an. Sie sah das markante Profil, die geschlossenen Augen. »Mutter?«
»Hm?«
»Vielleicht später. wenn ich nicht soviel um die Ohren habe. Im September vielleicht.«
»Nein.« Sie ließ sich auf nichts ein. »Es muß bald sein.« Sie hob die Hand. »Keine Sorge. Ich weiß, daß du sehr beschäftigt bist. Es war nur eine Idee.« Nun entstand zwischen ihnen ein Schweigen, das Nancy als unbehaglich empfand, voll unausgesprochener Vorwürfe. Aber warum sollte sie sich schuldig vorkommen? Sie konnte unmöglich Hals über Kopf, mit so wenig Zeit, um alles zu organisieren und zu regeln, nach Cornwall fahren.
Nancy vertrug es nicht, schweigend dazusitzen. Sie hielt gern ein stetig dahinplätscherndes Gespräch in Gang. Sie versuchte krampfhaft, sich ein interessantes neues Thema einfallen zu lassen, aber es war vergebens. Wirklich, Mutter konnte einen manchmal schrecklich nerven. Es war nicht ihre Schuld. Es lag einfach daran, daß sie so viel zu tun hatte, so beschäftigt war mit dem Haus, mit ihrem Mann und den Kindern. Es war nicht fair, daß
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