Die Muschelsucher
sonst noch etwas, das ich mir ansehen soll, oder ist das alles?«
»Nein. Ich habe unten noch etwas.«
»Können wir es uns jetzt ansehen?«
»Natürlich.«
Sie gingen wieder hinunter, und sie führte ihn ins Wohnzimmer. Sein Blick richtete sich sofort auf Die Muschelsucher. Penelope hatte die kleine, über dem Bild montierte Lampe angeknipst, ehe er gekommen war, und die Lichtbahn fiel über den Wolkenhimmel, das aufgewühlte Meer, den steinigen Strand. Penelope kam das Bild in diesem Moment, heute, schöner vor als je zuvor, frisch und strahlend und kühl wie einer der Tage, an denen es gemalt worden war. Nach einer langen Weile sagte Mr. Brookner: »Ich habe nichts von der Existenz dieses Bildes gewußt.«
»Es ist nie ausgestellt worden.«
»Wann ist es entstanden?«
»Neunzehnhundertsiebenundzwanzig. Es ist sein letztes großes Bild. Der Nordstrand in Porthkerris, von seinem Atelierfenster aus gemalt. Eines der Kinder bin ich. Es heißt Die Muschelsucher. Er hat es mir zur Hochzeit geschenkt. Das war vor vierundvierzig Jahren.«
»Welch ein Geschenk. Und welch ein kostbarer Besitz. Sie müssen doch sicher nicht daran denken, es zu verkaufen?«
»Nein. Dieses Bild verkaufe ich nicht. Aber ich wollte, daß Sie es sich ansehen.«
»Ich bin froh, daß ich es gesehen habe.«
Sein Blick wanderte zu dem Bild zurück. Nach einer Weile wurde ihr klar, daß er sich nur irgendwie beschäftigen wollte, bis sie beschloß, ihren nächsten Schritt zu tun.
»Ich fürchte, das ist alles, Mr. Brookner. Das heißt, ich habe noch einige Skizzen.«
Er wandte sich mit unbewegter Miene von den Muschelsuchern ab. »Einige Skizzen?«
»Ja, von meinem Vater.«
Er wartete, daß sie ihm Näheres mitteilte, und als sie es nicht tat, fragte er: »Darf ich sie sehen?«
»Ich weiß nicht, ob sie etwas wert sind und ob sie überhaupt interessant für Sie sind.«
»Das kann ich erst sagen, wenn ich sie gesehen habe.«
»Natürlich.« Sie griff hinter das Sofa und holte die alte, mit Bindfaden umschnürte Zeichenmappe hervor. »Sie sind hier drin.« Mr. Brookner nahm die Mappe und setzte sich in einen breiten viktorianischen Sessel. Er legte sie zu seinen Füßen auf den Teppich und löste den Knoten mit langen, behutsamen Fingern.
Roy Brookner war ein Mann mit jahrelanger Berufserfahrung, und er war im Laufe der Zeit immun gegen Regungen wie Überraschung und Enttäuschung geworden. Er hatte sogar gelernt, mit dem schlimmsten aller Alpträume fertigzuwerden, der sprichwörtlichen kleinen alten Dame, die, wahrscheinlich zum erstenmal in ihrem Leben, in finanziellen Nöten war und beschloß, ihren kostbarsten Besitz schätzen und dann versteigern zu lassen. Sie rief bei Boothby’s an und teilte ihre Absicht mit, und Roy Brookner vereinbarte pflichtschuldigst einen Termin und machte die - meist lange - Fahrt zu ihr. Und danach hatte er die grausame Pflicht, ihr zu sagen, daß das Bild kein Landseer war, die chinesische Vase nicht aus der Ming-Dynastie stammte und das Elfenbeinsiegel der Katharina von Medici erst Ende des 19. Jahrhunderts geschnitzt worden war. Daß ihr kostbarer Besitz wertlos war.
Mrs. Keeling war keine kleine alte Dame, und sie war die Tochter von Lawrence Stern, aber er klappte die alte Zeichenmappe dennoch ohne große Hoffnung auf. Er wußte wirklich nicht, was er erwarten sollte. Was er sah, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen, und er traute seinen Augen nicht.
Skizzen, hatte Penelope Keeling gesagt, aber sie hatte nicht gesagt, was für Skizzen. Sie waren in Öl auf Leinwand gemalt, und die Leinwände wiesen noch die rostfarben umrandeten kleinen Löcher der Reißnägel auf, mit denen sie an den Arbeitsrahmen befestigt waren. Er nahm eine nach der anderen ungläubig staunend heraus, ließ sich Zeit beim Betrachten, legte sie zur Seite. Die Farben waren frisch wie am ersten Tag, die Sujets unverkennbar. In wachsender Erregung stellte er im Kopf einen Katalog zusammen. Der Geist des Frühlings. Der nahende Verliebte. Die Wasserträgerinnen. Der Meeresgott. Terrasse über dem Meer...
Es war fast zuviel. Wie jemand, der bei einem Feinschmeckermahl mit allzu vielen Gängen sitzt, fühlte er sich gesättigt, meinte nicht mehr die Kraft zu haben, um fortzufahren. Er hielt inne und ließ die Hände zwischen den Knien nach unten hängen. Penelope Keeling stand neben dem Kamin, dessen Feuerstelle leer war, und wartete aufsein Urteil. Er blickte zu ihr hoch. Einen langen Moment sprach keiner von ihnen. Aber
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