Die Muschelsucher
hatte alle Zahlen in sein Notizbuch eingetragen und brannte offenbar darauf, den letzten Betrag zu erfahren, die Summe zu addieren und durch drei zu teilen. »Sie hat im Augenblick ein sehr beträchtliches Guthaben auf der Bank, da die hunderttausend Pfund, die sie für die beiden Tafelbilder ihres Vaters bekommen hat, inzwischen überwiesen wurden. Der Erlös für Kunstwerke ist natürlich zu versteuern, und dazu kommen die anderen Abgaben.«
»Trotzdem.« Noel rechnete rasch. »Das macht über dreihundertfünfzigtausend.« Niemand gab einen Kommentar zu der enorm hohen Summe ab. Schweigend schloß er den Füller wieder, legte ihn auf den Tisch und lehnte sich zurück. »Alles in allem nicht übel, Mädels.«
»Ich freue mich, daß Sie zufriedengestellt sind«, bemerkte Mr. Enderby trocken.
»Das wäre es dann wohl.« Noel reckte sich ungeniert und traf Anstalten aufzustehen. »Was würdet ihr sagen, wenn ich uns jetzt etwas zu trinken holte? Möchten Sie einen Whisky, Mr. Enderby?«
»Sehr gern. Aber erst später. Ich fürchte, das Geschäftliche ist noch nicht erledigt.«
Noel runzelte die Stirn. »Was gibt es denn noch?«
»Es gibt einen Zusatz zum Testament Ihrer Mutter, der auf den 30. April 1984 datiert ist. Das bedeutet natürlich eine Neudatierung des ursprünglichen Testaments, was jedoch nicht weiter von Belang ist, da der Zusatz die darin enthaltenen Verfügungen weder berührt noch verändert.«
Olivia überlegte. »Der 30. April. Das war der Tag, an dem sie nach London fuhr. Der Tag, bevor sie starb.«
»Jawohl.«
»Sie ist nur deshalb nach London gefahren, um Sie aufzusuchen, Mr. Enderby?«
»Das nehme ich an.«
»Um diesen Zusatz aufsetzen zu lassen?«
»Ja.«
»Vielleicht lesen Sie ihn uns jetzt vor?«
»Sofort, Miss Keeling. Vorher möchte ich jedoch darauf hinweisen, daß er in Mrs. Keelings Handschrift geschrieben und in Gegenwart meiner Sekretärin und meines Bürovorstehers von ihr unterzeichnet worden ist.« Er fing an zu lesen. »Ich vermache Danus Muirfield, Tractorman’s Cottage, Sawcombe’s Farm, Pudley, Gloucestershire, vierzehn Ölskizzen, die mein Vater Lawrence Stern zwischen 1890 und 1910 zu wichtigen Werken gefertigt hat. Sie haben folgende Bezeichnungen: Terrasse über dem Meer, Der nahende Verliebte, Das Werben des Fischers, Pandora .«
Die Ölskizzen. Noel hatte vermutet, daß es sie gab, und Olivia davon erzählt, und er hatte Podmore’s Thatch nach ihnen abgesucht, aber nichts gefunden. Olivia wandte den Kopf und sah ihren Bruder über den Tisch hinweg an. Er saß stocksteif und blaß da. Seine rechte Wange zuckte nervös. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er explodierte und zornentbrannt Protest einlegte. »Die Wasserträgerinnen, Ein Markt in Tunis, Der Liebesbrief... «
Wo waren sie all die Jahre gewesen? Wer hatte sie aufbewahrt? Woher waren sie gekommen?
»Der Geist des Frühlings, Hirten am Morgen, Amorettas Garten ...«
Noel hielt es nicht mehr aus. »Wo sind sie gewesen?« Seine Stimme war heiser vor Wut. Der so unhöflich unterbrochene Anwalt blieb bewundernswert ruhig. Er hatte wahrscheinlich mit einem solchen Ausbruch gerechnet. Er sah Noel über den Rand seiner Brillengläser hinweg an. »Wenn Sie mich bitte zu Ende lesen ließen, Mr. Keeling? Ich werde es Ihnen dann sagen.«
Stille trat ein. Dann sagte Noel: »Bitte.«
Mr. Enderby las ohne Eile weiter: »Der Meeresgott, Das Andenken, Weiße Rosen und Das Versteck. Diese Werke befinden sich im Augenblick bei Mr. Roy Brookner, Auktionshaus Boothby’s, New Bond Street, London WestEins, sollen jedoch bei der ersten in Frage kommenden Auktion der New Yorker Niederlassung der Firma versteigert werden. Falls ich vor dieser Auktion sterben sollte, kann Danus Muirfield nach seinem Belieben darüber verfügen und sie entweder verkaufen oder behalten.« Mr. Enderby lehnte sich zurück und wartete auf Reaktion. »Wo sind sie gewesen?«
Niemand sagte etwas. Die Atmosphäre war unangenehm spannungsgeladen. Dann wiederholte Noel seine Frage: »Wo sind sie gewesen?«
»Ihre Mutter hat sie eine Reihe von Jahren in der Rückwand ihres Kleiderschrankes versteckt. Sie hat die Mappe, in der sie sich befanden, selbst angeklebt und dann übertapeziert, damit sie nicht gefunden werden konnte.«
»Sie wollte nicht, daß wir etwas davon erfuhren?«
»Ich glaube nicht, daß sie dabei an ihre Kinder dachte. Sie wollte sie vor ihrem Mann verstecken. Sie hatte die Skizzen im alten Atelier ihres Vaters im
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