Die Muschelsucher
Hände fuhren fort, mit der Geschwindigkeit und Präzision eines Fließbands Tassen in das Abtropfgestell zu stellen. »Viele Hände machen die Arbeit nicht leichter, sage ich immer.«
»Der Tee war ausgezeichnet. Und von dem Sandkuchen ist kein Krümel übriggeblieben.«
Aber Mrs. Plackett hatte weder Zeit noch Lust zum Plaudern. »Warum gehen Sie nicht ins Wohnzimmer und setzen sich ein bißchen hin? Mrs. Chamberlain, Ihr Bruder und der andere Herr sind auch da. In zehn Minuten ist das Eßzimmer aufgeräumt, und Sie können mit Ihrer kleinen Sitzung anfangen.«
Der Vorschlag war ausgezeichnet. Olivia erhob keine Einwände. Sie war sehr müde, und ihr Rücken schmerzte vom vielen Stehen. Als sie durch die Diele ging, dachte sie kurz daran, sich nach oben zu stehlen, ein heißes Bad zu nehmen und sich dann mit einem interessanten Buch ins Bett zu legen und die Lektüre, das kühle Laken und die weichen Kissen zu genießen. Später, versprach sie sich. Der Tag war noch nicht vorbei. Später.
Im Wohnzimmer, wo bereits nichts mehr darauf hinwies, daß eben eine große Teegesellschaft stattgefunden hatte, fand sie Noel, Nancy und Mr. Enderby, die höflich Konversation machten. Nancy und Mr. Enderby saßen in den Armsesseln links und rechts vom Feuer, und Noel hatte sich wie üblich auf den Vorleger gesetzt und lehnte sich an die Kamineinfassung. Mr. Enderby stand auf, als Olivia eintrat. Er war Anfang Vierzig, doch mit seiner Glatze, seiner randlosen Brille und seinem dunklen Anzug sah er viel älter aus. Er benahm sich jedoch unbefangen und verbindlich, und Olivia hatte vorhin beobachtet, wie zwanglos er sich mit anderen Gästen bekannt machte und wie aufmerksam er verschiedenen älteren Herrschaften Tee eingeschenkt und Kuchen gereicht hatte. Er hatte sich auch eine Weile mit Danus unterhalten, was sehr freundlich von ihm gewesen war, denn Nancy und Noel hatten offensichtlich beschlossen, den jungen Mann zu schneiden. Der Urlaub in Cornwall auf Mamas Kosten und vor allem natürlich das teure Sands Hotel waren noch nicht vergessen.
»Entschuldigung, Mr. Enderby, ich fürchte, es ist ein bißchen spät geworden.« Sie ließ sich erleichtert in die Sofaecke sinken, und Mr. Enderby nahm wieder Platz. »Das macht nichts. Ich habe es nicht eilig.«
Aus dem Eßzimmer drang das Geräusch des Staubsaugers. »Es müssen nur noch die letzten Spuren beseitigt werden, dann können wir anfangen. Wie steht’s mit dir, Noel? Hast du eine dringende Verabredung in London?«
»Heute abend nicht.«
»Und du, Nancy? Du bist nicht in Zeitdruck?«
»Eigentlich nicht. Aber ich muß die Kinder abholen, und ich habe versprochen, daß ich nicht zu spät kommen würde.« Nancys Tränen waren rechtzeitig vor dem Ende der Trauerfeier versiegt; beim Tee hatte sie sich wieder ganz gefaßt, und jetzt sah sie recht unbeschwert drein. Vielleicht lag es daran, daß sie ihren Hut abgenommen hatte. George war bereits fort. Er hatte sich gleich nach dem Gottesdienst auf dem Friedhof verabschiedet, und seine Frau hatte ihn laut und vernehmlich ermahnt, er möge um Gottes willen vorsichtig fahren und den Erzdiakon von ihr grüßen, was er beides versprochen hatte. »Und ich würde gern vor Einbruch der Dunkelheit zu Haus sein. Ich fahre nicht gern allein im Dunkeln.« Der Staubsauger wurde ausgeschaltet. Im nächsten Moment ging die Tür auf, und Mrs. Plackett steckte ihren Kopf - immer noch mit dem schwarzen Hut darauf - ins Zimmer. »So, erledigt, Miss Keeling.«
»Vielen Dank, Mrs. Plackett.«
»Wenn es Ihnen recht ist, fahren Mr. Plackett und ich jetzt nach Haus.«
»Selbstverständlich. Und noch mal vielen, vielen Dank für alles.«
»Es war mir ein Vergnügen. Dann bis morgen.« Sie ging. Nancy runzelte die Stirn. »Morgen ist doch Sonntag. Warum will sie morgen kommen?«
»Sie wird mir helfen, Mamas Zimmer auszuräumen.« Olivia stand auf. »Sollen wir jetzt anfangen?«
Sie ging voran ins Eßzimmer. Alles war peinlich sauber aufgeräumt, und auf dem Tisch lag ein grünes Filztuch. Noel zog die Augenbrauen hoch. »Sieht aus wie für eine Vorstandssitzung.« Niemand reagierte auf die Bemerkung. Sie setzten sich, Mr. Enderby an das Ende des Tisches, Noel und Olivia links und rechts von ihm. Nancy nahm neben Noel Platz. Mr. Enderby öffnete seine Aktenmappe und nahm eine Reihe von Papieren heraus, die er vor sich zurechtlegte. Es war alles sehr förmlich, und er präsidierte. Sie warteten darauf, daß er begann. Er räusperte sich.
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