Die Muschelsucher
aufs Land ziehen, war ihm, als würde der Boden unter seinen Füßen weggezogen. »Und was ist mit mir? Was soll ich dann machen?«
»Noel, Liebling, du bist jetzt dreiundzwanzig, und du hast dein ganzes Leben in diesem Haus gelebt. Es ist vielleicht an der Zeit, daß du das Nest verläßt. Ich bin sicher, daß du etwas anderes findest, und hoffe, daß du dann endlich selbst für dich sorgen kannst.«
Selbst für sich sorgen. Miete zahlen, Lebensmittel kaufen, Scotch kaufen, Geld für blöde Dinge wie Vim fürs Bad und die Wäscherei ausgeben. Er hatte sich bis zum allerletzten Augenblick an die Oakley Street geklammert und wider besseres Wissen gehofft, sie würde es sich anders überlegen, und erst als der Möbelwagen kam, um ihre Besitztümer nach Gloucestershire zu bringen, hatte er sich damit abgefunden, daß er ausziehen mußte. Am Ende wurden auch die meisten Sachen von ihm abtransportiert, denn das schäbige kleine Apartment, das er fand, bot nicht genügend Platz für all die Dinge, die sich im Lauf von dreiundzwanzig Jahren ansammeln, und sie lagerten nun in einem kleinen, vollgestellten Raum in Podmore’s Thatch, der die euphemistische Bezeichnung Noels Zimmer trug.
Er fuhr so selten wie möglich dorthin, weil er seiner Mutter immer noch nicht verziehen hatte, aber auch, weil er sich ärgerte, daß sie so gern - und ohne ihn - auf dem Land wohnte. Er fand, sie sollte wenigstens den Anstand haben, ein wenig Sehnsucht nach den guten alten Tagen zu zeigen, in denen sie zusammen gelebt hatten, aber er schien ihr kein bißchen zu fehlen.
Er hatte Schwierigkeiten, das zu verstehen, denn sie fehlte ihm sehr.
Die Ankunft Amabels, die nur eine Viertelstunde zu spät kam, unterbrach ihn in seinen bittersüßen Betrachtungen. Es läutete, und als er öffnete, stand sie mit ihrem Gepäck, zwei prallgefüllten Einkaufstaschen - aus einer ragte ein Paar schmutziggrüner Stiefel hervor - , vor der Tür. »Hi.«
Er sagte: »Du kommst zu spät.«
»Ich weiß, tut mir leid.« Sie kam herein, stellte die Taschen hin, und er machte die Tür zu und gab ihr einen Kuß. »Was hat dich aufgehalten?«
»Ich konnte kein Taxi bekommen, und als ich endlich eines hatte, kam es nur im Schneckentempo voran.«
Ein Taxi. Ihm sank das Herz. »Bist du nicht mit dem Wagen da?«
»Ich habe einen Platten. Und ich habe kein Reserverad, und ich kann sowieso kein Rad wechseln.«
Das hätte er sich denken können. Sie war grenzenlos unpraktisch, und überhaupt war sie eine der chaotischsten Personen, die er je kennengelernt hatte. Sie war zwanzig, klein wie ein Kind, zartknochig und beängstigend mager. Ihre Haut war so blaß, daß sie fast durchscheinend wirkte, und sie hatte graugrüne Augen mit seidigen Wimpern und langes, seidiges und glattes Haar, das ihr die meiste Zeit ins Gesicht fiel. Sie schien sich für einen lauen Sommertag angezogen zu haben und nicht für diesen kalten und feuchten Abend im März. Knallenge dünne Jeans, ein T-Shirt und eine abgetragene Jeansjacke. Ihre Schuhe waren schäbig, ihre Knöchel nackt. Sie sah alles in allem aus wie eine Magersüchtige aus der Nervenheilanstalt Bermondsey, doch in Wahrheit war sie die Ehrenwerte Amabel Remington-Luard, und ihr Vater war Lord Stockwood, der große Güter in Leicestershire besaß. Das war der wichtigste Grund, der sie für Noel attraktiv gemacht hatte; aber gleich danach kam die Tatsache, daß er ihren Pennerlook unwiderstehlich sexy fand. Nun würden sie also mit dem Jaguar nach Wiltshire fahren müssen. Er schluckte seinen Ärger hinunter und sagte: »Also, wir gehen jetzt besser. Ich muß an einer Tankstelle halten und die Luft checken, und ich glaube, ich hab nicht mehr genug Benzin.«
»Oh, es tut mir leid.«
»Weißt du den Weg?«
»Wohin? Zur Tankstelle?«
»Nein. Zu deinen Freunden in Wiltshire.«
»Ja, natürlich.«
»Wie heißt das Haus?«
»Charbourne. Ich bin schon tausendmal dagewesen.« Er sah auf sie hinunter, und dann betrachtete er ihr sogenanntes Gepäck: »Ist das alles, was du mitnehmen willst?«
»Ich hab meine Stiefel mit.«
»Amabel, es ist noch Winter, und morgen ist eine große Party. Hast du keinen Mantel?«
»Nein, ich hab ihn letztes Wochenende auf dem Land vergessen.« Sie zuckte mit ihren knochigen Schultern. »Aber ich kann mir doch was leihen. Camilla hat bestimmt jede Menge Klamotten.«
»Darum geht es nicht. Zuerst müssen wir mal hinkommen, und die Heizung im Jaguar ist nicht sehr zuverlässig. Ich habe absolut keine
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