Die Muschelsucher
mich nicht unbedingt darauf, mein Haus mit jemandem teilen zu müssen, und sei es nur für kurze Zeit. Ich weiß, ich sollte mich schämen.«
»Nein, das solltest du nicht. Es ist ganz natürlich. Wie lange wird sie bleiben?«
»Ich nehme an, bis sie eine Arbeit und eine eigene Wohnung oder wenigstens ein Zimmer gefunden hat.«
»Hat sie eine Ausbildung?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Wahrscheinlich nicht. Olivia seufzte tief. Die Ereignisse des Morgens hatten sie emotional betäubt und fühlbar an ihren Kräften gezehrt. Es war nicht nur, daß sie den Schock und Kummer über Cosmos Tod irgendwie verkraften und verarbeiten mußte, nein. Dazu kam, daß sie sich von den Problemen anderer Leute bedrängt und umzingelt fühlte. Antonia würde kommen und bei ihr wohnen, und sie würde sie trösten müssen. Sie würde sie aufrichten und ihr helfen müssen, und es würde wahrscheinlich darauf hinauslaufen, daß sie ihr bei der Suche nach einem Job behilflich sein mußte. Nancy würde sie anrufen und wieder das Haushälterinnenthema aufs Tapet bringen, und ihre Mutter würde sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, eine fremde Frau ins Haus zu nehmen. Und zu alldem kam hinzu.
Sie hielt abrupt inne. Und dachte den Gedanken Schritt für Schritt rückwärts. Nancy. Mutter. Antonia. Natürlich! Das war die Lösung. Auf diese Weise würden die Probleme einander aufheben, fast wie bei den verflixten Bruchrechnungen in der Schule, bei denen völlig unerwartet eine schöne runde Zahl herausgekommen war. Sie sagte: »Ich habe eben eine fabelhafte Idee gehabt.«
»Und die wäre?«
»Antonia kommt hierher und zieht fürs erste zu meiner Mutter.« Wenn sie eine begeisterte Reaktion erwartet hatte, enttäuschte er sie. Er überlegte eine Weile, ehe er langsam fragte: »Wird sie es denn wollen?«
»Bestimmt. Ich hab dir doch gesagt, sie war ganz vernarrt in Mama. Als sie abreiste, wollte sie sie partout nicht gehen lassen. Und es wäre viel besser für sie, wenn sie für ein paar Wochen bei jemandem wie meiner Mutter wohnen könnte, um den Tod ihres Vaters ein wenig zu verarbeiten und mit sich zu Rande zu kommen, ehe sie anfängt, in London Klinken putzen zu gehen, um einen Job zu finden.«
»Das macht Sinn.«
»Und für Mama wäre es nicht so, als hätte sie eine Haushälterin. Es wäre wie Besuch von einer Freundin. Ich werde es ihr nachher vorschlagen. Vielleicht findet sie auch, daß es eine gute Idee ist. Ich bin fast sicher, daß sie nicht nein sagen wird. So gut wie sicher.«
Wie jedesmal, wenn sie ein Problem gelöst oder eine wichtige Entscheidung getroffen hatte, erwachte sie zu neuem Leben. Sie fühlte sich auf einmal viel besser. Sie richtete sich auf, klappte die Sonnenblende herunter und musterte sich in dem kleinen Spiegel, der darin eingelassen war. Sie sah ihr Gesicht, das immer noch sehr blaß war, und die dunklen Flecke unter den Augen, die wie Male von Schlägen waren. Der dunkle Pelzkragen unterstrich ihre Blässe, und sie hoffte, daß ihre Mutter keine Bemerkung darüber machen würde. Sie zog die Lippen nach und kämmte sich, um die Sonnenblende dann wieder hochzuklappen und ihre Aufmerksamkeit auf die Straße zu konzentrieren.
Sie hatten nun Burford hinter sich und waren nur noch rund fünf Kilometer von ihrem Ziel entfernt, und alles ringsum war ihr vertraut. »Hier müssen wir rechts ab«, sagte sie zu Hank, und er bog an der Gabelung mit dem Wegweiser nach Temple Pudley auf die schmale Landstraße ab, die sich den Hügel hinaufwand, und fuhr ganz langsam. Von oben konnten sie das Dorf im Tal sehen, wie ein Kinderspielzeug am silbrigen Wasserband des Windrush, der sich daran vorbeischlängelte. Die ersten Häuser begrüßten sie, alte, sehr schöne Häuser aus gelbem Stein. Sie sahen die Holzkirche hinter den Eiben. Ein Mann trieb eine Schafherde durch das Dorf, und vor dem Pub, der Sudeley Arms hieß, parkten Autos. Dort hielt Hank und stellte den Motor ab.
Olivia sah ihn überrascht an. »Ist dir zufällig nach einem Drink?« fragte sie höflich.
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich könnte mir vorstellen, daß du gern ein paar Augenblicke mit deiner Mutter allein wärst. Ich steige hier aus und komme später nach, wenn du mir erklärst, wie ich das Haus finden kann.«
»Es ist das dritte Haus unten an der Straße. Rechts, mit einem weißen Tor. Aber es ist wirklich nicht nötig.«
»Ich weiß.« Er tätschelte ihre Hand. »Aber ich denke, dann habt ihr es beide
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