Die Muschelsucher
natürlich seine bedrohlichen Seiten: Einsamkeit und Krankheit. Die Leute redeten immerzu davon, daß man im Alter allein sei, doch mit ihren vierundsechzig Jahren - was bestimmt nicht sehr alt war - genoß Penelope ihr Alleinsein. Sie hatte früher nie allein gelebt, und sie hatte es zuerst merkwürdig und sogar ein bißchen beängstigend gefunden, aber dann hatte sie langsam gelernt, es als einen Segen zu betrachten und Dinge zu tun, die sie früher nie gewagt hätte. Sie blieb morgens so lange im Bett, wie sie wollte, sie konnte sich kratzen, wenn es irgendwo juckte, und sie konnte bis nachts um zwei im Wohnzimmer sitzen, um Musik zu hören. Essen fiel auch in diese Kategorie. Sie hatte praktisch ihr Leben lang für ihre Familie und Freunde gekocht, und sie war eine ausgezeichnete Köchin, aber sie entwickelte im Lauf der Zeit eine Neigung zu kleinen Zwischenmahlzeiten, über die andere pikiert die Nase gerümpft oder zumindest gelächelt hätten. Sie naschte für ihr Leben gern kalte Bohnen aus der Büchse, sie liebte vorfabrizierte Salatsoßen und ganz ordinäre saure Gurken, die sie in den alten Tagen in der Oakley Street niemals auf den Tisch gebracht hätte. Selbst eine Krankheit hatte ihre guten Seiten. Seit jenem kleinen Schluckauf vor einem Monat, den die dummen Ärzte als Herzanfall gedeutet hatten, war sie sich zum erstenmal in ihrem Leben ihrer Sterblichkeit bewußt geworden. Es war nicht furchterregend, weil sie noch nie Angst vor dem Tod gehabt hatte, aber es schärfte ihr Wahrnehmungsvermögen und erinnerte sie sehr deutlich an das, was die Kirche die Sünden der Unterlassung nennt. Sie war nicht religiös, und sie grübelte nicht über vergangene Missetaten nach, die in den Augen der Kirche sicherlich sehr zahlreich gewesen waren, aber sie fing an, sich all das vor Augen zu führen, was sie nicht gemacht hatte. Sie hatte viele verrückte Dinge tun wollen, sie hatte davon geträumt, durch die Berge von Bhutan zu trecken oder die syrische Wüste zu durchqueren, um die Ruinen von Palmyra zu sehen, und sie hatte sich damit abgefunden, daß solche Träume unerfüllbar waren, aber sie hatte sich auch danach gesehnt, Porthkerris wiederzusehen, und diese Sehnsucht war zu einem fast übermächtigen Verlangen geworden.
Vierzig Jahre waren zu lang. Damals, gleich nach dem Krieg, war sie mit Nancy in den Zug gestiegen, hatte sich von ihrem Vater verabschiedet und war nach London gefahren. Im nächsten Jahr war er gestorben, und sie hatte Nancy bei ihrer Schwiegermutter gelassen, um zu seiner Beerdigung nach Cornwall zu fahren. Nach der Beerdigung waren sie und Doris noch einige Tage in Cam Cottage geblieben und hatten aufgeräumt und gepackt, aber dann mußte sie nach London zurückkehren, weil ihr Mann und ihre Familie sie brauchten. Seitdem war sie nie mehr in Cornwall gewesen. Sie hatte hinfahren wollen. Ich fahre mit den Kindern in den Ferien hin, hatte sie sich gesagt. Sie sollen an dem Strand spielen, wo ich gespielt habe, sie sollen ins Hochmoor klettern und die Heide sehen und wilde Blumen suchen. Aber sie hatte es nie getan.
Warum nicht? Die Jahre waren dahingeströmt wie ein schnell fließender Bach unter einer Brücke, und sie hatte die wenigen Gelegenheiten, die sich boten, nicht ergriffen, weil sie keine Zeit zu haben glaubte oder nicht genug Geld für die Eisenbahnfahrt. Sie war immer viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, das große Haus zu führen, sich um die Untermieter zu kümmern, die Kinder großziehen, sich um Ambrose zu kümmern.
Sie hatte Cam Cottage jahrelang behalten und sich geweigert, es zu verkaufen, sich nicht eingestehen wollen, daß sie niemals dorthin zurückkehren würde. Ein Makler hatte es an verschiedene Leute vermietet, und sie hatte sich die ganze Zeit eingeredet, sie würde eines Tages, irgendwann, dorthin zurückkehren. Sie würde die Kinder mitnehmen und ihnen das schlichte weiße Haus auf dem Hügel zeigen, das Haus mit dem verzauberten, von einer hohen Hecke umgebenen Garten, den Ausblick auf die Bucht und den Leuchtturm.
Sie sagte es sich viele Jahre, und als es ihr eine Zeitlang nicht gut gegangen war und sie in einem psychischen Tief steckte, hatte der Makler sie angerufen und gesagt, ein älteres Ehepaar habe das Haus besichtigt und würde es gern als Alterssitz kaufen. Die Interessenten waren sehr wohlhabende Leute. Penelope, die kaum wußte, wie sie über die Runden kommen sollte, und an die Ausbildung ihrer drei Kinder denken mußte, an die ihr schwacher
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