Die Muse des Mörders (German Edition)
war. Schon oft hatte er ihre Lesungen besucht und ihre Bücher anschließend mit seiner Kritik in der Luft zerrissen. Auch sonst entdeckte sie keine bekannten Gesichter bis auf das ihres Hausmädchens. Lucy hatte sie unbedingt begleiten wollen und saß auf einem Stuhl in der vierten Reihe. Madeleine war froh, dass sie sonst niemanden sah, den sie kannte. Sie war weniger nervös, wenn sie vor Fremden las. Das war schon immer so gewesen. Vertraute Gesichter im Publikum gaben ihr das Gefühl, besonders gut sein zu müssen. Einzig Paul hatte sie immer gern dabeigehabt.
Madeleine sah auf die Uhr. Applaus erklang, als Judith mit ihrer Begrüßung fertig war und sich mit einem höflichen Knicks zurückzog. Madeleine entging nicht, dass sie wieder den blauen Saphirring trug. Der attraktive Goldschmied hatte sie wohl nachhaltig beeindruckt. Die blonde Frau verließ den Raum und widmete sich den anderen Teilen der Veranstaltung. Trotz der Anwesenheit der Presse herrschte jetzt die altbekannte Intimität zwischen Madeleine und den Zuhörern, die sie schon immer an Lesungen geschätzt hatte. Sie setzte ihre Brille auf und wartete, bis Stille eingekehrt war, dann schlug sie die erste Seite des Buches auf.
52.
Er stand in der Nähe der Tür, sodass er jederzeit unbemerkt in der Menschenmenge der Zuhörer verschwinden konnte. Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen und das Gefühl der Erleichterung, das er früher nach jeder neuen Tat verspürt hatte, wollte sich mittlerweile gar nicht mehr einstellen. Nach dem Mord an Zofe Carla und dem namenlosen »Sub« in der Wanne war er leer gewesen. Er hatte gar nichts gefühlt und auch das Schmuckstück hatte ihn nicht aufheitern können. Natürlich hatte er gemerkt, wie etwas in ihm ins Gleichgewicht geriet, wie immer, wenn er eine Trophäe in seinen Besitz gebracht hatte. Dieses wiederhergestellte Gleichgewicht hatte aber nichts bewirkt. Das Fieber war nicht verschwunden. Es wütete in ihm und sein dunkler Stern nahm es gleichgültig hin. Mehr als das. Er versuchte schon wieder, ihn zu einer neuen Tat anzustacheln. Wenn möglich noch heute Nacht.
Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich nur auf die Worte der alten Dame zu konzentrieren. Ihr Klang schaffte es, die tobende Stimme in seinem Inneren zu übertönen, und er war dankbar für die paar Minuten Ruhe, die ihm damit vergönnt waren. Er hatte gestern Abend im Radio von der Lesung gehört und war bis zuletzt unentschlossen gewesen, ob er herkommen sollte. Mit jedem Mord wuchs das Gefühl in ihm, dass jeder ihm ansehen konnte, was er nachts anrichtete. Dass an seinen Händen unabwaschbares Blut klebte wie an denen von Lady Macbeth. Doch nach der letzten Nacht war ihm klar geworden, dass er hierherkommen musste. Er hatte keine ruhige Sekunde gehabt, hatte keine zehn Minuten im selben Raum bleiben können, ohne dass die Wände sich zu teuflischen Grimassen verzogen und der Boden unter seinen Füßen sich anfühlte wie bebendes weiches Wundgewebe. Dreimal hatte er kalt geduscht, um zu verhindern, dass sein glühender Körper sich selbst verbrannte, und die ganze Nacht befürchtet, dass es trotzdem passieren würde. Bei jedem Blick in den Spiegel hatte er sich gefragt, wie es nur so weit hatte kommen können und in welchen Abgrund es ihn noch führen würde.
Der siebte Kreis der Hölle ist reserviert für Mörder und Gotteslästerer, das weißt du doch.
Jahrelang hatte er alles im Griff gehabt. Zwar hatte es immer Momente gegeben, in denen sein dunkler Stern ihn dazu brachte, irgendeinen Unsinn, irgendeinen dummen Fehler zu machen. Trotzdem hatte er selbst die Oberhand über sein Schicksal gehabt, doch von einem Tag auf den anderen hatten sich die Dinge grundlegend geändert. Das, was ihn unter Kontrolle gehalten hatte, funktionierte nicht mehr. Die Stimmen waren lauter geworden und die Gier in ihm größer. Er erinnerte sich genau an den Tag. Er hatte versucht, die Fassade zu wahren, wie es ihm sein ganzes Leben über gelungen war, doch an diesem Tag hatte das Fieber zum ersten Mal zugeschlagen. Alles, was ihn normalerweise ablenkte und ihm Freude machte, hatte ihn gelangweilt, fast abgestoßen.
Was nützt das alles? Was nützt es, wenn du das Einzige, das du begehrst, nicht haben kannst …
Fieberhaft hatte er alle spitzen und scharfen Gegenstände vor sich selbst versteckt. Er kannte sich und er hatte sich schon damals nicht vertraut. In dem Moment, als er geglaubt hatte, dass er es nicht mehr aushalten würde, war
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