Die Muse des Mörders (German Edition)
Polizist reagierte sofort und rief abgehackte Befehle in sein Funkgerät.
»Hat jemand gesehen, wohin er gelaufen ist?«, fragte die Polizistin die Zuhörer. Die Menschen riefen wild durcheinander. Sie verstanden nun, dass sie soeben vermutlich dem momentan gefährlichsten Mann der Stadt begegnet waren und zeigten ihr Entsetzen lautstark.
Madeleine sah, wie die zwei Polizisten, dem ausgestreckten Zeigefinger eines Zuschauers folgend, aus dem Raum hasteten. Die Jagd auf den jungen Mann war eröffnet.
54.
»Ich verstehe das einfach nicht! Warum schützt du diesen Verrückten?«
Madeleine hatte Lucy selten so aufgebracht erlebt. Viel zu schnell steuerte sie den alten Mercedes durch die engen Wiener Straßen.
»Ich schütze ihn doch gar nicht, Lucy.«
»Du hast der Polizei diesen Zettel verheimlicht.«
»Damit ich in Ruhe lesen kann, was darauf steht.« Madeleine zog das zerknitterte Blatt Papier aus ihrer Tasche und Lucy sah kurz zu ihr hinüber. Instinktiv hatte sie die Nachricht verschwinden lassen und für sich behalten. Nun fragte sie sich selbst, warum eigentlich. Der zerknitterte Zettel konnte ein Beweisstück sein, das Härchen oder Hautschüppchen enthielt. Ihr Gefühl hatte ihr aber gesagt, dass sie die Nachricht in Ruhe lesen musste. Dass es dringend war. Aus Erfahrung wusste sie, dass es immer besser war, wenn sie auf ihr Gefühl hörte. Vielleicht hoffte sie einfach immer noch auf irgendein Indiz, das sie von dem Verdacht befreite, die Dolchstoßmorde legitimiert zu haben. Was sie hier machte, mochte die starrsinnige Tat einer verwirrten alten Frau sein, aber sie fühlte sich nicht verwirrt. Sie faltete das karierte Blatt auseinander und setzte die Lesebrille auf. Die verschwommenen Buchstaben auf dem Zettel wurden zu einer zittrigen Handschrift.
Madeleine,
ich flehe Sie an wie ein Sohn seine Mutter. Bringen Sie den Schmuck, den Sie von mir erhalten haben, zurück zu René Kardos. Sagen Sie Ihm, Sie möchten etwas daran ändern lassen, aber bringen Sie ihm die Sachen. Tun Sie es heute noch oder etwas Schreckliches wird passieren!
Madeleine las die Zeilen ein weiteres Mal, diesmal laut.
»Etwas Schreckliches wird passieren? Was meint er damit?«, fragte Lucy.
Madeleine versuchte, sich vom schrillen Ton ihres Hausmädchens nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie blickte aus dem Fenster und die leeren Straßen wirkten gespenstischer denn je.
Wollte der junge Mann ihr drohen oder sie warnen? Vielleicht gefiel es ihm nicht, dass sie mit der Polizei gesprochen hatte, aber hätte er das Geschmeide dann nicht eher für sich selbst zurückgefordert?
Lucy kam anscheinend ein ähnlicher Gedanke.
»Wahrscheinlich weiß der Kerl, dass du Greve das Collier gegeben hast, und ist jetzt wütend. Wer weiß, was er anrichtet, wenn du nicht tust, was er sagt …«
Madeleine schüttelte den Kopf. Natürlich nahm sie die Drohung, Mahnung oder was immer es war ernst. Es musste aber mehr dahinterstecken. Wenn der Irre seinen Schmuck einfach nur wiederhaben wollte, würde er sie doch auffordern, ihn irgendwo zu verstecken, vielleicht in einem Bahnhofsschließfach. Was für ein Interesse konnte der Mörder an René Kardos haben? Zum ersten Mal fragte sie sich, ob die Schmuckstücke, die bei den Morden gestohlen worden waren, vielleicht alle von diesem Goldschmied stammten. Ob der Mörder auf eine finstere Weise besessen von den Künsten dieses Mannes war. Sie spürte wieder, dass sie etwas Entscheidendes übersah, denn selbst wenn es so sein sollte, fehlte ein wichtiges Bindeglied, ein einzelnes Puzzleteil, das sie daran hinderte, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es half alles nichts. Sie musste mit dem Goldschmied sprechen. Vielleicht war es besser, ihn vor seinem besessenen Fan zu warnen.
»Lucy, könntest du …« In diesem Moment klingelte ihr Handy und Madeleine zuckte zusammen. Sie hatte so gut wie niemandem diese Nummer gegeben und erschrak jedes Mal, wenn es läutete. Umständlich suchte sie das Telefon in ihrer Handtasche und drückte auf »Annehmen«, ohne auf die Nummer zu achten.
»Madeleine Scuderi?«
Eine schüchterne Frauenstimme meldete sich.
»Jennifer Leopold hier. Sind Sie die Schwester von Georg Scuderi?«
55.
Dominik sah sich im Schlafzimmer um, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck für die zwei goldenen Ohrringe, die er in Kardos’ Laden gekauft hatte. Er hatte sich für Kreolen entschieden. 750er Gold, 1,2 Karat Diamanten.
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