Die Mutter
und erstaunt, als sie mir öffnete. Irgendwie ist es komisch, man hat eine bestimmte Vorstellung, bildet sich eine Meinung, legt sich ein paar Sätze zurecht. Und dann bringt man keinen davon über die Lippen, weil nichts so ist, wie man es erwartet hat.
Ich hatte Regina Kolter zuletzt vor drei Jahren gesehen, vielleicht war es noch länger her. Und ich hatte sie nur in ihrem Auto vorbeifahren sehen. Einen flüchtigen Blick auf den Ozelot um ihre Schultern und den hinreißenden Wuschelkopf werfen dürfen. Mag sein, dass ich sie beneidet hatte um ihre Fähigkeit, eine Frisur zutragen, die sie zehn Jahre jünger machte, mit der ich ausgesehen hätte wie frisch aus dem Bett gestiegen. Es war nicht die Frisur gewesen, das begriff ich schnell. Sie war zehn Jahre jünger, als ich mir ausgerechnet hatte.
Ein schmales, blasses Gesicht, übernächtigte Augen, das dunkelblonde Haar hing ihr bis auf die Schultern und wirkte in keiner Weise aufreizend oder verjüngend, nur so, als hätte sie noch nicht die Zeit gefunden, sich zu kämmen. Sie trug eine ausgebleichte Jeans mit Designerriss auf dem rechten Knie und ein sackartiges Sweatshirt, weder Strümpfe noch Schuhe. Auf nackten Füßen stand sie in der Tür, hielt einen Apfel in der rechten Hand, von dem sie mehrfach abgebissen hatte.
Ich hatte sagen wollen: «Entschuldigen Sie die frühe Störung.» Und ich hatte es in einem ganz bestimmten Ton sagen wollen, ein bisschen spöttisch, sehr energisch und unterlegt von den unausgesprochenen Worten: Im Gegensatz zu dir sorge ich mich um meine Tochter und finde, wir sollten etwas unternehmen.
Stattdessen sagte ich: «Wir kennen uns nicht, Frau Kolter. Ich bin Renas Mutter. Ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, was die Polizei vermutet, aber …»
Weiter kam ich nicht.
Die Hand mit dem Apfel winkte mich in eine helle Diele. Es sah nicht aus wie ein Privatpuff, nur wie eine freundliche, gemütliche Wohnung. Bis auf eine Ausnahme standen sämtliche Zimmertüren offen. Ich konnte ungehindert einen Blick auf das üppige Blumengesteck im Wohnzimmer, auf das Frühstücksgedeck in der Küche, auf das Handtuch über dem Beckenrand im Bad und auf das ungemachte Bett im Schlafzimmer werfen. Was mir den Atem nahm, war das riesige Foto über dem Bett. Es war so groß wie ein Poster.
Was erwartet man im Schlafzimmer einer Frau, von der man weiß, dass sie ihr Geld mit «Begleitungen» verdient? Eine nackte Carmen, ein Paar in zärtlicher Umarmung, irgendein erotisches Motiv jedenfalls. Schwer vorstellbar, dass von dem Foto überihrem Bett eine stimulierende Wirkung ausging. Ein zierliches Kind im weißen Spitzenkleid, ein weißes Krönchen im dunklen Haar, in einer Hand die weiße Kerze mit dem Goldmotiv, in der anderen das Gebetbuch. Nita im Kommunionskleid.
Die Hand mit dem Apfel zeigte zur Küche. Gesprochen hatte sie noch kein Wort, auch sonst nichts getan, keine Miene verzogen, weder abfällig gegrinst noch teilnahmslos gelächelt. Sie zeigte auf einen Stuhl beim Tisch. Es gab nur zwei Stühle. Sie nahm auf dem zweiten Platz und legte ihren Apfel auf den Teller des Gedecks.
Auf dem Tisch stand ein kleines Mixgerät mit Glaskanne. Die Kanne war zur Hälfte gefüllt mit einer trüben Flüssigkeit. Sie goss sich ein. Ob sie mir etwas anbieten dürfe, fragte sie nicht. Sie trank einen Schluck, räusperte sich. Ihre Stimme klang nach ungezählten Zigaretten oder durchweinten Nächten. «Und was vermutet die Polizei?»
Es wäre leichter gewesen, ihr das zu erklären, wenn sie mich nicht so unverwandt angeschaut hätte, während ich sprach. Ein Blick wie eine müde Puppe, kein Blinzeln, kein Zucken der Mundwinkel, kein Heben und Senken unter dem Sweatshirt, nichts, woraus sich schließen ließ, dass sie lebte und zuhörte.
Irgendwann stieß sie die Luft aus, die Lippen kräuselten sich. «Phantastisch», murmelte sie, trank noch einen Schluck von der trüben, zähflüssigen Brühe, senkte den Kopf und nahm ihren Apfel wieder in die Hand. Sie drehte ihn, betrachtete die Bissmale. «Und was machen wir nun? Schimpfen wir gemeinsam auf die blöden Bullen? Heulen wir uns gegenseitig was vor? Oder soll ich mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich ein Ungeheuer in die Welt gesetzt habe?»
Ohne den Blick zu heben, zeigte sie mit der freien Hand zur offenen Tür, durch die Diele in ihr Schlafzimmer. Von ihrem Platz aus musste sie das große Foto ganz sehen können, wenn sie hinschaute. Das tat sie
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