Die Mutter
Hysterie als sonst was, aber es hatte eine gewisse Komik. Man nennt es wohl Sarkasmus.
Feierabend! Du hast es weit gebracht, Vera. Du hast sie alle aus dem Haus getrieben auf die eine oder andere Art. Jetzt hast du Jürgens Traum für dich allein. Dabei warst du die Letzte, die auf dem Reuther-Hof leben wollte. Nein, das war Rena. Und sie hat ihn als Erste verlassen. So werden Bibelsprüche wahr. Die Letzten werden die Ersten sein! Und: Lasset die Kindlein zu mir kommen!
Die Vorstellung von Udo als Pferdeschlächter verblasste. Sie hatte ihren Zweck erfüllt, mich zurück an den Punkt gebracht, an den ich gehörte. Wenn ein biederer Bauernsohn ein wehrloses Tier abschlachten konnte, nur weil er ein bisschen Zeit in einem Stall verschwendet hatte, konnte ein verstörtes Geschöpf wie Nita ohne weiteres ein Mädchen töten, das nichts mehr von ihr wissen wollte. Was wusste ich denn von Nitas Wut?
Ich trieb wieder durch das dreckige, eisige Wasser in den Kanalrohren. Und Vaters Überzeugung von der Tüchtigkeit eines jeden Staatsdieners schnitt mir die Luft ab. Klinkhammer musste ein sehr tüchtiger Polizist sein, sonst hätte er sich die Zeit genommen, einmal während der Dienststunden zum Friseur zu gehen. Und er musste mehr gehabt haben als den Satz auf dem Band, um die Kanalinspektion zu veranlassen. Das war ein größerer Aufwand gewesen, als ein paar Bauern ins Feld zu scheuchen und ein paar Jugendliche zu befragen.
Was zum Teufel verschwiegen sie mir? Was hatte Vater ihnen gesagt? Was hatten sie von Uwe Lengries erfahren? Ich dachte daran, Jürgen anzurufen, ich tat es nicht. Fragen hätte er mir ohnehin nicht beantwortet. Und wenn er meinte, er müsse ein paar Tage weg, bitte! Wenn er zurückkam, war vielleicht ich weg.
Die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, die Angst und die Leere im Innern, dieser Wust an Gefühlen klumpte sich zusammen und verwandelte sich langsam in Zorn. In Watte gepackt und für dumm verkauft! Es war mein Kind, verdammt! Es war ein Stück von mir. Und wenn ich es damals so wenig gewollt hatte wie eine Blinddarmentzündung. Es hatte sechzehn Jahre lang zu mir gehört. Es war genau so, als hätten sie mir einen Arm abgehackt, ihn irgendwo verscharrt und mir nicht sagen wollen, wo. Aber ich wollte es herausfinden! Ich wollte meinen Arm zurückhaben – auf Biegen und Brechen!
Ich will nicht behaupten, ich hätte einen Plan gehabt. Es war noch zu vage, aber es war etwas da. Die Stimme der Vernunft oderdie des leeren Hauses. Mach dir nichts vor, Vera, du bist allein. Ob nun in diesem Haus oder mit deiner Ansicht, das spielt keine Rolle. Aber auch Polizisten können ihre Schlüsse nur aus dem ziehen, was sie sehen und hören. Du hast Augen und Ohren, Vera, sperr sie weit auf und mach dich selbständig.
Es begann nicht sehr vielversprechend. Am Anrufbeantworter wäre ich beinahe kläglich gescheitert. Mir standen nun einmal etliche Sekunden zur Verfügung, die voll geplaudert werden wollten. Mein freundlich abwartendes «Zardiss» ließ eine beträchtliche Lücke bis zum Piepton. Und der war nicht auszumerzen.
Ich versuchte mit ein paar Tricks, die überflüssigen Sekunden so zu füllen, dass der Eindruck eines realen Gesprächspartners entstand. Nur hatte ich nicht die Möglichkeit festzustellen, wie es auf andere wirkte.
Die Idee, mir eine Telefonzelle zu suchen, um meine Bemühungen von außen im Ergebnis zu begutachten, verwarf ich rasch wieder. Mir stand nicht der Sinn danach, das hell erleuchtete Haus noch einmal zu verlassen. Außerdem sagte mir ein Rest Sarkasmus, ich hätte mir einen ziemlich großen Rémy Martin einverleibt, und ein verantwortungsbewusster Mensch setze sich nicht mit Alkohol im Blut in Vaters Mercedes. So bat ich Gretchen um telefonische Unterstützung und ihre Meinung.
Es war nicht so, dass ich nach ihr griff wie nach einer Ersatzmutter. Zwanzigjährige Ansichten werden nicht durch ein paar Schlucke Schnaps und ein paar schnoddrige Sätze revidiert. Vielleicht hatte Hennessen Recht und Gretchens Herz war aus purem Gold. Aber so weit, das Glitzern zu sehen, war ich noch lange nicht. Ich war nur … ich weiß es nicht – einsam.
Ich tanzte auf Messers Schneide. Und es war ein verdammt scharfes Messer, das mir bei jedem Gedanken den Verstand ein wenig mehr einritzte. Vera gegen den Rest der Welt? Mach dir nichts vor, das schaffst du nicht. Akzeptiere die Tatsachen, akzeptiere sie endlich. Es war deine eigene Idee in den ersten Stunden. Als nochniemand bereit war,
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