Die Mutter
nicht. Und ich sah nur den Rand, ein Stück vom weißen Kleid und die Kerze.
«Sieht so ein Ungeheuer aus?»
Ihre Hand kam zurück, strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ein tiefer Atemzug hob das Sweatshirt an. «Sie war ein niedliches Baby, auch mit zehn oder zwölf war sie noch niedlich. Sie war immer sehr klein und zierlich. Aber sie war kerngesund! Und Köpfchen hatte sie. In der Grundschule sagten sie, sie muss aufs Gymnasium. Es lief auch wunderbar in den ersten beiden Jahren. Sie hätte was aus sich machen können, studieren, einen tollen Job. Ich habe sie nicht kaputtgemacht, ich nicht! Das hat ein Kollege Ihres Mannes besorgt. Ein Scheißer hat sie angefahren. Monatelang hat sie in der Klinik gelegen, musste das Schuljahr wiederholen. Aber das wäre nicht so tragisch gewesen.»
Plötzlich schleuderte sie den Apfel durch die Küche, legte beide Hände vors Gesicht. «Scheiße, verfluchte Scheiße. Ich war nicht da. Ein Freund hatte mich auf sein Boot eingeladen, und ich brauchte ein paar Tage Urlaub. Es war ziemlich stressig mit ihr in den letzten Monaten. Ich habe zu ihr gesagt, tu, was du willst, nimm dir, was du kriegen kannst. Manchmal hat sie es übertrieben. Manchmal dachte ich, ich halt’s nicht mehr aus mit ihr. Aber ich wollte sie mitnehmen. Ich dachte, ein paar Tage nur Wind und Wasser, das tut ihr sicher gut. Sie wollte nicht. Sie sagte: ‹Ich kann nicht aus der Schule wegbleiben.› Ich sagte: ‹Scheiß auf die Schule. Die sind froh, wenn du nicht kommst.› Gelacht hat sie. ‹Deshalb gehe ich ja so gerne hin›, sagte sie.»
Sie nahm die Hände herunter, schaute mich an. «Kein Wort hat sie verlauten lassen, was sie vorhatte. Ich war gerade zur Tür reingekommen, hatte noch nicht den Koffer ausgepackt, da kommt dieser Bulle und fragt mich, wo sie ist. Es hat ihm Spaß gemacht, genossen hat er es, auf dem hohen Ross zu sitzen und auf eine Nutte herabzuschauen. Ich wusste, was er dachte. Ich kann Gedanken lesen; muss man können in dem Job. Ich dachte: Leck mich, du Scheißer. Wenn du eine Nutte sehen willst, den Gefallen kann ich dir tun, es macht keine Umstände.»
Ich wollte mir nichts anhören von ihrem Schmerz. Es war ein widersprüchliches Gefühl. Ein Teil in mir fand, sie hatte kein Recht darauf. Und ein anderer Teil hatte bereits die Gemeinsamkeit entdeckt. Aber ich wollte mit Regina Kolter nichts gemeinsam haben. Ich wollte weg, so schnell wie möglich.
«Haben Sie ein neues Foto von Ihrer Tochter?»
Sekundenlang starrte sie mich an, als hätte sie mich nicht verstanden. Dann lachte sie. Es war ein dunkler, kehliger Ton. Sie schürzte spöttisch die Lippen. «Nein! Ich habe nämlich keine Tochter. Ich war vierzehn, als ich sie bekommen habe; mein jüngster Bruder ist drei Monate älter als Nita. Sie war meine Puppe, sagt ein Mann, der das studiert hat. Vor zwei Jahren habe ich sie zu einem Psychologen geschickt. Ich dachte, er könnte ihr helfen. Aber er hat nur ein bisschen analysiert und kam zu dem Ergebnis, dass sie mein Spielzeug war.»
Sie zuckte mit den Achseln und bückte sich nach dem Apfel. Er war gegen die Wand über der Spüle geprallt, zurückgeflogen und ihr vor die Füße gekullert. Sie hob ihn auf und trat damit ans Fenster. Mit abgewandtem Rücken sprach sie weiter.
«Ich hab sie nie als Spielzeug gesehen. Sie atmete und lachte. Ich war stolz auf mich, dass ich etwas so Wundervolles zustande gebracht hatte. Nachts habe ich sie in mein Bett geholt und mich gefreut, wenn sie mich anschaute und mir etwas erzählte; hö hö und rö rö, was Babys halt so von sich geben. Ich wollte nicht, dass sie abgelegte Kleider tragen musste. Ich wollte, dass sie hübsch war.»
Nachdem sie einmal angefangen hatte, fand sie kein Ende. Ich konnte nicht aufstehen und gehen. Der Teil in mir, der die Gemeinsamkeit entdeckt hatte, wuchs mir über den Kopf. Ich wollte es wahrhaftig nicht, aber ich empfand Mitleid und Sympathie. Ich schaute sie an und sah mich selbst. Ab und zu braucht man eben einen Menschen, der zuhört. Etwas anderes als zuhören konnte ich nicht. Weder antworten noch Fragen stellen, noch unbesehen glauben, dass Nita ein niedliches Püppchen gewesen war.
Regina Kolter erzählte von den hübschen Kleidchen der ersten Jahre, vom Streit mit ihren Eltern, die sich weigerten, jeden Firlefanz zu bezahlen. Von der kindlich naiven Affäre mit dem Nachbarssohn, der Nita entsprungen war, und vom Spaß, den es gemacht hatte, mit dem Jungen zu schlafen. Von den Blicken
Weitere Kostenlose Bücher