Die Mutter
ein Verbrechen in Betracht zu ziehen, hast du sie tot in der letzten Box in Hennessens Stall gesehen. Macht es einen Unterschied, ob ein biederer Reitstallbesitzer ausrastet oder ein kaputtes Geschöpf wie Nita?
Gretchen machte kein Aufhebens um meine Bitte. Für sie war mein Ansinnen ebenso selbstverständlich wie der Tritt auf einen Maulwurfshügel im Salatbeet. Vera dreht durch, nun lass uns mal zusehen, dass wir die Bewegung stoppen. Bis nach Mitternacht gingen diverse Anrufe hin und her. Meine vorletzte Bandbesprechung fand Gretchen nicht übel. Ich hatte mir dafür Vaters Niebelungenlied geborgt und ließ es im Hintergrund mitlaufen.
Ich sagte: «Zardiss.» Und: «Moment bitte.» Dann drehte ich das Gesicht vom Mikrophon weg und sagte: «Kann mal jemand die Musik leiser stellen?» Und wieder zum Anrufbeantworter: «Einen Augenblick noch.» Und in Richtung Tür gerufen: «Vater, mach doch bitte die Musik …» Von da an waren es noch drei Sekunden bis zum Piepser. Zeit genug, die Stereoanlage per Fernbedienung verstummen zu lassen und gleichzeitig zu fragen: «Rena, bist du es, Schatz?»
Gretchen fand es recht passabel. Otto, der auch einmal testen wollte, fand es sogar fast echt. Mir gefiel es nicht, weil es hinter dem Schatz piepste. Und Gretchens Stimme hatte bereits ebenso viel Wirkung gezeigt wie eine Valium zehn. Ich war fast wieder normal und völlig am Ende.
Der letzte Versuch: «Rena, wir sind im Moment nicht zu Hause. Ruf in der Praxis an, Schatz, oder sprich nach dem Pfeifton ein paar Worte auf das Band. Bitte, Rena, sag uns, wo du bist und ob es dir gut geht. Wir machen uns solche Sorgen um dich.» Dass mir beim letzten Satz die Stimme brach, war keine Absicht, ich konnte es nur nicht verhindern.
«Ich glaube», sagte Gretchen bedächtig, «so ist es am besten.» Im gleichen Atemzug fragte sie: «Ist der Doktor heimgekommen?»
Ich verneinte. Sekundenlang blieb es still in der Leitung. Ich hörte Otto im Hintergrund rumoren. Gretchen fragte: «Soll Otto morgen früh kommen und dich zu deinem Auto bringen?»
«Das ist nicht nötig. Ich kann den Wagen meines Vaters benutzen.»
«Du solltest ihn aber nicht im Dorf rumstehen lassen. Nachher machen die Kinder was kaputt.»
«Daran kann man nicht mehr viel kaputtmachen.»
«Pass auf», sagte sie. «Ich schick Otto morgen früh. Du gibst ihm den Schlüssel, dann schaff ich dir das Auto auf den Hof.»
«Willst du es fahren?» Es war das erste Mal, dass ich sie duzte. Bis dahin hatte ich mich um jede persönliche Anrede herumgemogelt. Ich wunderte mich, dass es so flüssig über die Lippen ging.
«Warum nicht», sagte sie. «Früher hab ich Lastwagen gefahren. Nach dem Krieg, es waren ja keine Männer da. Ich komm schon klar mit so ’ner kleinen Kiste. Ich fahr auch den Volvo, wenn’s sein muss. Im Dorf sind doch keine Grünen, die nach dem Lappen fragen.»
Ich hatte den Satz noch so gut im Ohr. Und ich hatte ihn meiner Mutter in den Mund geschoben. Wir sprachen noch fast eine halbe Stunde lang über alles Mögliche, nur nicht über die Tränen, die sich nicht aufhalten ließen. Ich hasste mich für die Schniefer ins Telefon, aber sie machten es leichter, verliehen den Sätzen, die sie unterbrachen, mehr Gewicht und Überzeugungskraft.
Über den Irrtum sprachen wir, in dem die Polizei sich befand, befinden musste. Dass ich Nita alles Üble zutraute, aber nicht die Fähigkeit, einen Menschen zu töten. Wir sprachen auch über Udo und meine Parkplatzerkenntnis. Ich dachte, Gretchen wäre erstaunt gewesen. Das war sie nicht. Ich konnte ihr bedächtiges Nicken förmlich durchs Telefon hören.
«So was hab ich mir fast gedacht. Udo ist immer zu Hennes gelaufen, wenn er Ärger hatte. Nun hat er mehr Ärger, als er verkraften kann, und lässt sich nicht mehr bei ihm blicken. Da konntewas nicht stimmen. Und Hennes hat auch schon ein paar komische Bemerkungen gemacht, sagt Otto. Könnte sein, er denkt dasselbe wie du. Aber er wird sich hüten, sich mit den von Wirths anzulegen. Würde ich dir auch nicht empfehlen. Aber wenn du willst, dass es morgen Abend alle wissen, gehst du am besten morgen früh zur Ziegler.»
«Ich habe nicht vor, es herumzuerzählen.»
«Dann ist es gut. Man muss dem Jungen nicht unnötig Scherereien machen. Sein Alter reißt ihm den Kopf ab, wenn ihm das zu Ohren kommt. Udo hat’s nie leicht gehabt bei dem Alten. Nichts konnt er ihm recht machen. Immer war Annegret besser als er. Als Udo anfing, zu Hennes zu rennen,
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