Die Mutter
war der Ofen ganz aus.»
Sie erzählte ein wenig Dorfklatsch. Dass irgendwann das Gerücht aufgekommen war, Udo sei ebenso schwul wie Hennes. Dass man sich über das Gerede nicht wundern dürfe. Wenn ein Mann in Udos Alter einen Bogen um jede Frau machte und bisher nicht eine einzige Freundin gehabt hatte, kamen eben ein paar Leute auf verrückte Ideen.
Sie glaubte nicht so recht an Udos Neigung zum eigenen Geschlecht. Möglich, dass er mal probiert hatte. Ebenso möglich, dass er nur deshalb die Finger von Frauen ließ, weil er Annegret als perfekte Vorlage vor Augen hatte und sich dachte, er könne keine auf den elterlichen Hof bringen, die Gnade fand in den Augen seines Vaters.
Als ich den Streit im Krankenzimmer erwähnte, seufzte Gretchen. «Ach Gott, der Alte hat sie nicht alle auf der Reihe. Ich hab’s schon von einigen gehört und wollt’s nicht glauben. Ist doch hirnverbrannt, dem Jungen die Schuld an dem Unfall zu geben. Bei der Beerdigung – ich war ja nicht da, bin ich auch froh drum. Ich hätte dem Alten was anderes erzählt, wenn ich’s gesehen und gehört hätte – hat er Udo vom Grab weggerissen. Stell dir das vor! Ein Mörder hat am Grab seiner Tochter nichts zu suchen, soll er gesagt haben. Der Junge kann einem in der Seele Leid tun. Ich werd malmit ihm reden, wenn ich ihn allein zu packen kriege.» Dann wünschte sie mir eine gute Nacht.
So gut war sie nicht. Um zwei legte ich mich ins Bett, um fünf stand ich wieder auf. Um halb sechs döste ich in Jürgens Fernsehsessel ein und träumte von aufgeschlitzten Pferdeleibern und einer Gestalt, die in finsterer Absicht ein einsames Gehöft aufsuchte, um einer Frau die Kehle durchzuschneiden und sie in einem Kanalschacht verschwinden zu lassen. Dazu dudelte und schrillte ein Spielautomat.
Um sieben versetzte mir ein Poltern aus der Diele einen Stromstoß. Es gehörte nicht zu einem Traum, war so real wie die gefüllte Blase, die mich kurz zuvor endgültig aufgeweckt, aber noch nicht dazu veranlasst hatte, die Augen zu öffnen. Dafür sorgte das Hämmern. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich eine scheußliche Fratze am Fenster.
Es war nur Otto, der sich die Nase an der Scheibe platt drückte. Gretchen bearbeitete die Haustür mit ihren Fäusten. Ich ließ sie herein. Gretchen bestand darauf, dass ich ein kräftiges Frühstück zu mir nahm. Während sie es zubereitete, fuhr Otto mich ins Dorf. Es war mir doch lieber, den Fiesta selbst auf den Hof zurückzuholen. Ich glaube, Gretchen war es auch lieber.
Beim Frühstück leisteten sie mir beide Gesellschaft. Mehrfach hatte ich das Gefühl, dass Gretchen mich etwas fragen wollte. Jedes Mal warf sie einen zweifelnden Blick auf Otto und machte dann eine läppische Bemerkung über die Küche oder Vaters Mercedes. «Kann nicht schaden, wenn du den fährst. Mit so ’ner Kutsche macht man Eindruck.»
Auch wenn sie keinen bestimmten Zweck mit diesem Satz verfolgte, brachte sie mich damit auf eine Idee. Allmählich nahm es doch konkrete Formen an. Ein zuverlässiger Mann! Wie viel Zeit mochte ich mir kaufen können für fünftausend Mark? Ich brauchte nicht nur mehr Geld, ich brauchte auch Fotos. Von Rena gab es genug im Haus. Das Problem war Nita. Der Gedanke, ihreMutter samt Begleitung zu stören, hatte nicht viel Verlockendes. Aber es musste sein.
Ich bat Gretchen, im Haus zu bleiben, wozu sie ohne Zögern bereit war. Ich sagte, ich wäre gegen Mittag zurück. Und sollte das Telefon klingeln … «Kümmere dich nicht um den Anrufbeantworter, nimm ab und sprich mit ihr. Ich bin sicher, mit dir wird sie reden.»
Otto wollte zu Hennessen. Er verließ das Haus zusammen mit mir. Gretchen rief ihm nach: «Und halt die Schnauze. Du erlebst dein blaues Wunder, wenn du Hennes was von Udo erzählst.»
Otto riss treuherzig die Augen auf und beteuerte: «Wo werd ich denn.»
Er fuhr vor mir her zur Landstraße hinunter, bog nach links ab, hupte und winkte noch einmal, als seien wir gute Kameraden. Ich dachte an künftige Sonntagnachmittage im trauten Familienkreis. Ob Otto in der Lage war, die Stachelbeer-Baiser-Torte zu würdigen? Schwer vorstellbar. Mutter würde mir nie verzeihen, dass ich sie ins Haus gelassen hatte.
Um zwanzig nach neun setzte ich Vaters Wagen neben Regina Kolters schnittiges Coupé. Ich war noch immer in einem merkwürdigen Zustand, zur Hälfte erfüllt von Gretchens Schnoddrigkeit, zur anderen Hälfte leer.
Ich war überzeugt, Nitas Mutter aus dem Bett klingeln zu müssen,
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