Die Mutter
unnötig aufregte. Er fuhr wieder heim, sprach mit seiner Mutter über den Unfall in der Kiesgrube und das, was sein Vater ihm in der Nacht vorgeworfen und angedroht hatte. Seine Mutter versprach, mit dem Vater zu reden. Dann kam Klinkhammer und Udo erfuhr, dass Rena verschwunden war.
In der Nacht vor der Beerdigung seiner Schwester versuchte er erneut, mit Renas Großvater über die Stute und alles andere zu reden. Diesmal hatte er Renas Vater in der Leitung und legte wie beim ersten Mal wortlos auf. Erst am nächsten Tag führte der dritte Versuch zum Erfolg, leider mit einem furchtbaren Ergebnis.
Dass er dann noch ein viertes Mal bei uns angerufen hatte, obwohl er mit Sicherheit wusste, dass der verständnisvolle alte Mannim Krankenhaus lag, auch dafür gab es eine Erklärung. Er hatte mit mir reden wollen, mir gestehen, dass er für den Zusammenbruch meines Vaters verantwortlich war, mir sagen, wie Leid ihm das alles tat. Was ich per Band sagte, war zu viel für ihn.
Es gab sogar eine Erklärung für den Widerspruch im Verhalten seines Vaters, der ihn erst Mörder schimpfte und vom Grundstück wies, der dann die halbe Nacht unterwegs war, ihn zu suchen. So ist das eben mit Vätern! In ihrem Schmerz sagen sie Dinge, die sie kurz darauf bereuen. Und dann tun sie alles, um dem einzigen Sohn beizustehen.
«Und jetzt?», fragte Jürgen, als Olgert zum Ende gekommen war.
Klinkhammer hob die Schultern an, ließ sie wieder sinken. Olgert betrachtete seine Hände.
«Sie glauben das doch nicht etwa?», fragte Jürgen.
Klinkhammer schüttelte den Kopf. Olgert räusperte sich. «Der Haftrichter war der Meinung, dass die Beweislage im Augenblick noch nicht ausreicht. Wir mussten ihn freilassen.»
«Freilassen», murmelte Jürgen und fügte nach etlichen Sekunden hinzu: «Gut! Es ist vielleicht besser so. Den Rest übernehme ich.»
Er warf mir einen Blick zu. Ich weiß nicht, ob es ein zärtlicher oder ein verzweifelter Blick war. «Ich habe es meiner Frau versprochen.»
«Machen Sie keine Dummheiten, Herr Zardiss», mahnte Olgert.
«Ich? Dummheiten?», fragte Jürgen erstaunt und lachte leise. «Trauen Sie mir Dummheiten zu? Da unterschätzen Sie mich aber gewaltig. Ich werde Udo von Wirth nicht anrühren. Ich sage Ihnen, was ich jetzt mache. Ab sofort führe ich Buch über jeden Schritt, den ich gehe, über jede Minute jedes Tages. Ich werde mich nur noch dort aufhalten, wo andere in der Nähe sind, die später bezeugen können, dass ich zur fraglichen Zeit in Gesellschaft und weitabvom Geschehen war.» Er lächelte Olgert an, schaute zu Klinkhammer hin. «Ist das in Ihrem Sinne?»
Klinkhammer betrachtete Jürgens angeschlagene Stirn. Die Kerbe war blaurot geschwollen. «Herr Zardiss, seien Sie vernünftig. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist. Aber falls von Wirth etwas zustößt …»
Jürgen unterbrach ihn mit einer lässigen Handbewegung. «Wollen Sie mich etwa zur Rechenschaft ziehen, wenn er sich aufhängt? Oder wenn er sich die Pistole von Hennes holt und sich doch noch eine Kugel in den Kopf schießt?»
Jürgen dozierte wie ein Professor an der Uni. «Wenn ein schwer depressiver und suizidgefährdeter Mann, der schon einmal alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um diese Welt zu verlassen, sein Ziel letztendlich erreicht, ist höchstens seinen Ärzten oder Angehörigen ein Vorwurf zu machen, weil sie Warnsignale übersehen haben.»
Klinkhammer nickte bedächtig, Olgert pulte an seinen Fingernägeln. Jürgen sagte: «Weisen Sie ihn in die Psychiatrie ein, wenn Sie verhindern wollen, dass ihm etwas zustößt. Er hat Ihnen seine Selbstmordabsicht ins Protokoll diktiert, was wollen Sie mehr? Dann haben wir ja auch noch die Sachbeschädigung oder Tierquälerei. Was ist eigentlich mit Hennessen, wie äußert er sich dazu? Er wird doch bestimmt Anzeige erstatten. Was kriegt man für eine bestialisch abgeschlachtete Stute? Na, kommen Sie, ein halbes Jahr muss drin sein. Das Tier war trächtig.»
Olgert erhob sich, Klinkhammer sagte: «Ich glaube, wir gehen jetzt besser. Darf ich Ihnen einen Rat geben? Besaufen Sie sich. Das werde ich auch machen.»
Dann saßen wir da. Jürgen machte keine Anstalten, sich zu besaufen. Es war auch nicht mehr viel im Haus, nur der Grand Marnier und ein Rest Steinhäger im Kühlschrank. Länger als eine halbe Stunde saß er reglos im Sessel und hielt die Augen geschlossen. Dann kam Anne heim, sie hatte den Nachmittag bei Patrickverbracht. Jürgen stand auf, als sie das
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