Die Mutter
begann zu stammeln. «Es tut mir Leid, Vera, es tut mir so Leid. Ich wollte das nicht sagen. Ich habe es nicht so gemeint, wirklich nicht. Das musst du mir glauben. Es war … Mir sind einfach die Nerven durchgegangen. Ich konnte nicht mehr.»
Um zwei Uhr in der Nacht fiel mir ein, was ich Anne hatte fragen wollen, nachdem Klinkhammer und Olgert weg waren. Als ich die beiden zur Tür brachte, hatte ich ein Gefühl, als hätte ich etwas in der Hand. Ich konnte es nur nicht richtig packen und nicht darüber nachdenken, weil mir plötzlich diese Frage durch den Kopf schoss. Aber als ich zurück ins Wohnzimmer kam, musste ich mich zuerst um Jürgen kümmern.
Er lag auf den Knien vor dem Couchtisch und schlug seinen Kopf gegen die Kante, wie die Mutter von Ursula Bost vor all den Jahren gegen den Bordstein schlug. Er schrie etwas vom Müllsack und dass es keine Konservendosen und keine Milch- oder Saftpakete gewesen seien, sondern etwas anderes, etwas völlig anderes, etwas wie Kleidungsstücke und Plastiktüten. Und er hatte den Inhalt nicht kontrolliert. Er hatte dem Schweinehund die Möglichkeit verschafft, belastendes Beweismaterial beiseite zu schaffen.
Anne stand neben ihm, presste beide Fäuste vor den Mund und wimmerte, statt etwas zu unternehmen. Als ich ihn festhalten wollte, schlug er nach mir, schrie und tobte weiter. Anne holte zwei Tabletten und ein Glas Wasser. Aber ehe wir ihn vom Tisch weggezogen und auf den Rücken gelegt hatten …
Anne setzte sich auf seine Beine, legte ihr Gewicht nach vorne und drückte mit den Händen seine Schultern auf den Boden, winselte und jammerte: «Hör auf damit, Papa, hör auf. Das halte ich nicht aus.»
Ich hielt ihm die Nase zu, presste ihm die beiden Tabletten zwischen die Lippen und kippte ein halbes Glas Wasser hinterher. Ich dachte, er wäre daran erstickt. Er hustete, würgte, die Kerbe in seiner Stirn lief blau an. Dann beruhigte er sich allmählich.
Um ihn nach oben zu bringen, brauchte ich Annes Hilfe nicht mehr. Ich zog ihn aus, legte ihn ins Bett wie ein Kind. Das war er auch in dem Moment, hilflos wie ein Säugling mit einer Kolik. Als ich dann wieder nach unten kam, stand Anne am Telefon und erzählte Patrick, dass Udo von Wirth der Mörder ihrer einzigen Schwester war. Sie telefonierte fast eine halbe Stunde und war danach nicht mehr ansprechbar.
So sprach ich erst mit Gretchen, weil … Es war ja sonst niemand da. Gretchen wusste schon Bescheid. Die allwissende Frau Ziegler hatte sie informiert, dass am späten Nachmittag eine Hundertschaft damit begonnen hatte, das gesamte Grundstück der von Wirths umzugraben. Sie hatten den Wagen des Alten beschlagnahmt, das Haus und den Anbau auf den Kopf gestellt, die Scheune und die Stallungen durchsucht, irgendeine Maschine in sämtliche Einzelteile zerlegt. Das alles erzählte Gretchen bereitwillig. Ansonsten war sie sehr zurückhaltend, äußerte kein Für und kein Wider, sagte nur, man könne niemandem hinter die Stirn schauen.
Dann rief Jürgen nach mir, um sich noch einmal zu entschuldigen und zu versichern, dass er nicht gemeint hatte, was er über Feldweg und abgeschlachtet gesagt hatte. Er erzählte mir, im Dorfging das Gerücht: Als Annegret das erste Kind bekommen hatte, hätte Udo versucht, dem Säugling etwas anzutun. Was genau, wusste niemand. Annegret hätte sich immer jede Spekulation darüber verbeten.
Dann schlief er endlich ein, und ich nahm ein Bad, weil ich dachte, im warmen Wasser könne ich die Gedanken besser sortieren. Es war immer noch ein Gefühl, als hielte ich etwas in der Hand. Das Ende eines dünnen Fadens. So dünn, dass ich kaum etwas davon spürte. Ich spürte auch kaum etwas vom Wasser. Zuerst war es zu heiß, dann war es zu kalt. Da ging ich ins Bett, um mich aufzuwärmen.
Jürgen schnarchte mit offenem Mund. Ich zitterte und mir schlugen die Zähne aufeinander. Zähne! Das war es, was ich Anne hatte fragen wollen. Ich stand auf, ging in ihr Zimmer und weckte sie. «Du hast Udos Hände gesehen, waren sie in Ordnung?»
«Was ist los?»
«An dem Freitagmorgen! Du hast ihn im Feld getroffen, als er den Müllsack aufhob und mitschleppte. Was war mit seinen Händen?»
«Weiß ich nicht.»
«Dann denk nach.»
Sie blinzelte zum Wecker hinüber. «Mutti, es ist zwei Uhr.»
«Es wird noch später.»
Sie seufzte. «Mutti, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe nicht auf seine Hände geachtet.»
«Wenn du den Sack gesehen hast, hast du auch seine Hände gesehen.
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