Die Mutter
Ich habe sie gesehen, aber das war am Montag. Bis dahin können kleinere Verletzungen abgeheilt sein. Mach die Augen zu.»
Sie schloss die Augen.
«Jetzt stehst du vor ihm auf dem Feldweg», sagte ich. «Und nun schau genau hin.»
Sie riss die Augen wieder auf. «Mutti, hör bitte auf mit dem Unsinn. Ich bin müde.»
«Das bin ich auch. Das sind wir alle.»
«Dann geh ins Bett, Mutti. Wir reden morgen früh.»
«Wir reden jetzt.»
«Mutti, bitte! Es gibt nichts zu reden. Rena ist tot. Und mir ist an Udos Händen nichts Besonderes aufgefallen.»
«Siehst du», sagte ich, «das wollte ich hören. Wenn sie zerkratzt oder zerbissen gewesen wären, das wäre dir aufgefallen. Oder meinst du nicht?»
«Ja, kann sein», räumte sie ein.
«Dann schlaf jetzt. Gute Nacht.»
«Gute Nacht», murmelte sie.
Ich ging hinunter, nahm den Notizblock und den Stift neben dem Telefon weg und setzte mich ins Esszimmer. Keine sichtbaren Kampfspuren an den Händen! Der erste Satz auf dem Block. Damit hielt ich den Faden fest in der Hand und zog ihn langsam durch.
Udos Geständnis war keinen Pfifferling wert. Zweiundvierzig Jahre mit einem Richter gehen nicht spurlos vorbei. Ich dankte Vater für all die Stunden, in denen er mir von der Schlechtigkeit der Welt, von Mördern und Dieben, von tüchtigen Polizisten und von imkompetenten erzählt hatte. Auch von solchen, die im Bemühen, einen Fall aufzuklären, weit übers Ziel hinausschossen und einem Verdächtigen in den Mund legten, was sie hören wollten.
Dass es mir beim Lesen des Geständnisses nicht sofort aufgefallen war! Renate Zardiss! Und auch der Rest – es waren Klinkhammers Worte. Vor der Tür gewartet. Von den Pferden erzählt. Sogar die Reihenfolge stimmte, erst die Stute, dann der Hengst.
Kurz nach sechs hatte ich fünf Seiten mit Widersprüchen gefüllt. Ich las alles noch einmal und dabei fiel mir ein, dass Udo nicht zwangsläufig Kratz- und Bisswunden an den Händen gehabt haben musste, wenn er sie auf andere Weise getötet hatte. Und wenn er nicht sagen wollte, auf welche Weise, hatte er vielleicht nur deshalb nachgeplappert, was Klinkhammer ihm vorsagte.
Wenn! Und dann fiel mir ein, dass Fred König den alten von Wirth in der Nacht zweimal hatte fahren sehen; einmal um zwölf und einmal um vier! Dann hatte er sie wohl um zwölf weggeschafft und um vier Udo aus der Kiesgrube abgeholt.
Ich konnte nicht mehr denken, machte Kaffee, weckte Jürgen und Anne. Wir frühstückten, keiner sprach. Jürgen schaute mich nur mit wundem Blick an.
Anne bat: «Fährst du mich zur Schule, Papa?»
«Du brauchst heute nicht», sagte er.
«Ich möchte aber, Papa. Wenn ich hier sitze, werde ich verrückt. Ich will nur nicht mit dem Rad und auch nicht ins Dorf laufen.»
Um halb acht verließen sie das Haus. Jürgen wollte noch kurz bei Klinkhammer vorbeischauen und dann in die Praxis. Ich räumte ein wenig auf und fuhr ins Krankenhaus.
Mutter saß an Vaters Bett und las ihm die Festnahme eines Verdächtigen im Fall Renate Z. aus der Tageszeitung vor, als ich das Zimmer betrat. Als ich zu sprechen begann, stellte sie sich ans Fenster und drehte sich nicht mehr um. Sie stand nur da und starrte hinaus.
Ein grauer Tag und ein graues Gesicht in den Kissen. Vater hörte zu, anfangs noch mit regloser Miene, zu schockiert für ein Blinzeln. Irgendwann sagte er leise: «Wenn sie keine Leiche finden, ist es ein Geständnis ohne jeden Wert.»
Das wusste ich doch. Und Klinkhammer wusste es auch, deshalb war er so deprimiert gewesen.
«Ich sollte Klinkhammer sagen, was der Brandmeister in der Nacht gesehen hat, meinst du nicht?»
Vater nickte zwar, aber noch während er das tat, sagte er: «Hat der Brandmeister gesehen, wohin der Alte fuhr? Hat er gesehen, ob er allein im Wagen saß? Hat er gesehen, dass mit dem Wagen eine Leiche transportiert wurde? Nein! Der Brandmeister ging davon aus, der Alte sei unterwegs, um Udo zu suchen. Und genau das werden die von Wirths sagen.»
Ich blieb nicht lange. Es war noch viel im Haus zu tun, und ich wollte daheim sein, wenn Anne aus der Schule kam. In der Diele begrüßte mich die Eins auf dem Zählwerk.
Regina Kolter bedauerte, es mir nicht persönlich sagen zu können. Die zweite Sitzung bei ihrer Bekannten war ein durchschlagender Erfolg gewesen. Die Tarot-Karten hatten gezeigt, dass unsere Töchter in Frieden und Harmonie in einem kleinen Häuschen am Stadtrand lebten, inmitten von Grün und Blau. Das Blau konnte ein kleiner Teich oder ein
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