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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Surface und Rock vor der Kündigung zu retten.
    Langsam, sehr langsam, aber mit im Laufe der Nacht zunehmender
Geschwindigkeit zieht ›Clem Zwei‹ nach Süden.
Zunächst hängt man noch der Hoffnung nach, ›Clem
Zwei‹ würde doch dem Höhenwind folgen, was einen
Westkurs bedingen würde – und was obendrein schlecht
wäre, denn ›Clem Zwei‹ würde dann auch dem
originalen ›Clem‹ folgen, der soeben über das jetzt
leere Kingman Reef hinweggedonnert ist; aber zumindest hätten
sie dann eine Atempause.
    In der Morgendämmerung des 9. Juli beschleunigt ›Clem
Zwei‹ und fegt schließlich in einer weit nach Osten
ausgreifenden Bewegung in den Golf von Tehuantepec.
     
    Jesse und Mary Ann haben bereits gepackt – jedem
Flüchtling ist nur eine kleine Reisetasche erlaubt. Wenige
Minuten nach dem Alarm warten sie schon draußen auf die
Militär-Lkw. Aber die Armee tritt nicht an, auch nicht nach
mehreren Stunden. Bisher ist von ›Clem Zwei‹ nicht mehr als
eine schwache Brise zu spüren, womit es sich noch um einen ganz
normalen, windigen Sommertag handelt, an dem ein Gewitter aufzieht.
Nach einer langen Wartezeit beschließen sie, den Proviant
für später zu reservieren und biegen um die
Straßenecke, wobei sie sehen, daß viele der kleinen Cafes
wieder geöffnet sind. »Ich kann den Laden immer noch
zumachen, wenn die Armee kommt«, erklärt einer der
Inhaber.
    Die Nachrichten melden, daß große Wellen an die
Küste branden und daß alle Busse eingesetzt werden, um
zunächst die Bevölkerung dort zu evakuieren. Diese Meldung
wird von beruhigenden Bildern begleitet, auf denen Soldaten den
Menschen beim Besteigen der Busse behilflich sind.
    Auf Jesse wirkt das jedoch alles andere als beruhigend. »Mary
Ann – das ist ja gar nicht Puerto Madero!«
    »Woher willst du das denn wissen?«
    »Weil ich das Gebäude im Vordergrund kenne, und dieser
Bau steht in Tuxtla Gutierrez. Ich weiß nicht, was hier
wirklich vorgeht, aber Puerto Madero wird nicht evakuiert, soviel ist
sicher.«
    »Warum sollten sie…«
    Jesse zuckt die Achseln. »Könnte alles mögliche
bedeuten. Vielleicht hat eine Meuterei stattgefunden, und sie wollen
nun verhindern, daß die Leute in Panik geraten. Oder die Lage
verschärft sich so schnell, daß sie die Menschen
überhaupt nicht in Sicherheit bringen können, und sie
versuchen sie auf diese Art ruhigzustellen. Möglicherweise wird
auch um die sicheren Gebiete gekämpft. Trotzdem halte ich es
für am wahrscheinlichsten, daß sie nur nicht in der Lage
waren, den Zeitplan einzuhalten, und uns später abholen werden;
sie wollen nur gewährleisten, daß die Leute sich in der
Nähe der Sammelstellen aufhalten. Es könnte ja sein,
daß der Zipline eine Panne hat – was übrigens
ziemlich oft passiert –, und deshalb wollen sie verhindern,
daß die Menschen sich am Kopfbahnhof konzentrieren; das
erschwert nur die Beladung des Zipline, zumal der Bahnhof auch
gar keinen Schutz bietet.«
    Mary Ann grinst ihn an. »Also wirklich, du bist schon einer.
Daß dir solche Erklärungen einfallen. Die meisten meiner
Bekannten hätten jetzt gesagt: ›Das ist typisch‹ oder:
›Oh, da kann man nichts machen‹, aber dir kommen gleich
zwanzig mögliche Erklärungen in den Sinn.«
    »Von denen vielleicht keine einzige zutrifft.«
    »Ja, kann sein, aber das macht nichts. Ich wollte nur sagen,
daß du – die Dinge erklärst, anstatt mir irgend etwas
zu erzählen.« Mary Ann zieht eine Bandana aus ihrem
Rucksack und fährt sich damit über das schweißnasse
Gesicht. »Die Hitze und die Stille gefallen mir nicht, und der
grünliche Himmel schon gar nicht.«
    »Mir auch nicht.« Sie rücken zusammen, daß
ihre Schultern sich berühren; so wird ihnen zwar noch
wärmer, aber Jesse zieht diesen Körperkontakt dem Blick auf
die grünbraunen Wolken vor, die sich nun dräuend am Himmel
zusammenballen und das letzte Blau nach Osten verdrängen.
    Nach dem Mittagessen trinken sie noch eine Tasse Kaffee. »Der
Sturm wird schlagartig einsetzen«, erklärt Jesse, »und
ein Straßencafe mit einer Markise ist sicher nicht der
geeignete Platz, um ihn zu überstehen.«
    »Die Sammelstelle ist doch auch im Freien.«
    »Stimmt, aber dein Haus ist nur etwa dreißig Meter
entfernt. Und aus dem Fenster im ersten Stock sehen wir, wenn der Bus
kommt.«
    Sie seufzt. »Im Moment, wo der Sturm noch nicht losgebrochen
ist, habe ich wirklich den Eindruck, es findet eine ganz normale
Versammlung unter freiem Himmel statt. Gut, gehen

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