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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Zeit,
bis sie sich ein besseres Bild von ihm machen kann.
    »Du wirst dich wohl fragen, was ich hier mache.«
    »Das frage ich mich echt«, erwidert sie patzig. Sie hat
sich immer geärgert, wenn Jesse das zu ihr sagte, und sie will
diesen Kerl ein bißchen abschrecken, so daß eventuelle
romantische Anwandlungen von seiner Seite nicht schon in den ersten
fünf Minuten durchbrechen.
    »Nun, ich war lange unterwegs und habe mir das Land und den
ganzen Kram angesehen, während ich im Netz Geschäfte
machte. Jetzt sind das Netz und die Transponder ausgefallen, und
deshalb bewege ich meinen Arsch zurück in die Staaten. Und da
dachte ich, mit einem netten Mädchen macht die Fahrt noch mehr
Spaß. Du bist nicht wie eine Mexikanerin
gekleidet…«
    »Was stimmt denn nicht mit den Mexikanerinnen?« fragt
Naomi. Der Typ ist soeben auf ihrer Punkteskala beträchtlich
abgerutscht.
    »Nichts; höchstens, daß sie kein Englisch
sprechen.«
    »Sprechen Sie denn Spanisch?«
    »Keine Silbe. Ich fahre nur von einem Ferienort zum anderen
und komme kaum aus dem Auto; wenn die Transponder funktionieren,
werde ich hingefahren, und dann schaue ich mir alles aus dem Wagen
an.«
    Ihr liegt schon eine kritische Bemerkung auf der Zunge; aber dann
sagt sie sich, daß sie bisher ja selbst nur einige barrios und ein paar Kleinstädte gesehen hat. Es gibt wohl
unterschiedliche Ausprägungen von Beschränktheit. Und
außerdem befindet sie sich jetzt schon so dicht beim Auto,
daß sie den Kaltluftstrom der Klimaanlage spürt. »Ich
vermute«, sagt er dann, »daß du hier draußen
Studien über Armut durchführst oder in der Art.«
    »In der Art.«
    »Ist nicht mein Ding. Aber ich würde gern etwas von dir
darüber hören; die CDs kenne ich alle schon, und beim
manuellen Fahren kann ich auch nicht per XV oder Video
arbeiten.«
    Jetzt ist es an der Zeit, ihm ein wenig Honig ums Maul zu
schmieren, befindet sie; sie hat eine gewisse Distanz geschaffen, und
er scheint wirklich der zu sein, wofür er sich ausgibt –
ein Gringo-Geschäftsmann, der die schöne mexikanische
Landschaft und die schönen mexikanischen Strände mag,
Mexiko selbst aber nicht. Bis Oaxaca wird sie schon damit klarkommen
– oder sogar bis in die Staaten. Eine ausgesprochen gute Idee.
»Von mir gibt es nicht viel zu erzählen«, sagt sie.
»Ich befürchte, Sie beurteilen mich nur nach meinem
Aussehen. Und können Sie dieses Ding wirklich selbst fahren? Auf
der Highschool habe ich zwar den Führerschein gemacht, aber
seitdem bin ich nicht mehr manuell gefahren. Sie müssen Reflexe
wie ein Kampfpilot haben.«
    Das entlockt ihm ein leichtes Grinsen; weil die Augen sich hinter
der dunklen Sonnenbrille verbergen, wäre es gleichermaßen
möglich, daß er sich über diese Schmeichelei
amüsiert oder ihr gleich an die Gurgel geht. Sie entscheidet
sich jedoch dafür, dieses Grinsen als freundliche Würdigung
der ihm von ihr entgegengebrachten Bewunderung zu interpretieren.
»Teufel, unsere Großeltern sind alle manuell
gefahren.«
    Sie unterdrückt das Bedürfnis, ihm zu erläutern,
daß ihre Großeltern zu den ersten Deepers gehört hatten und ab Mitte Dreißig nie mehr Auto
gefahren sind, genauso wie sie Fleisch und allen sonstigen tierischen
Lebensmitteln entsagt hatten. Statt dessen sagt sie: »Nun, ich
würde gern mitfahren. Ich wollte nach Ixtepec und von dort aus
mit dem Zipline nach Oaxaca.«
    »Ich fahre auch nach Oaxaca«, entgegnet er, »und
von dort aus hoch nach Mexico City und dann weiter bis nach Nogales.
Wenn man die Nachrichten verfolgt, dann wäre es an der Zeit,
sich in die Rockies zu verdrücken, und ich habe ein Ferienhaus
oben in der Nähe von Green River, Utah. Du kannst mitfahren, so
weit du willst oder solange wir es zusammen aushalten. Wenn wir bis
Oaxaca miteinander auskommen, halten wir dort an und laden dein
Gepäck ein.«
    Sie weiß nicht, wie lange sie es wohl zusammen aushalten
werden, aber sie sagt: »Alles, was ich in Oaxaca habe,
paßt in zwei Koffer, und meine Eltern leben in Grand Junction.
Ich würde sehr gern mit Ihnen fahren.«
    Und dann geht er wie ein Gentleman in einem alten Film um das Auto
herum und öffnet ihr mit einer kleinen Verbeugung die Tür.
Sie lächelt – Teufel, beim Gedanken an die Klimaanlage und
den womöglich noch mit Getränken bestückten
Kühlschrank, den sie gerade erspäht hat, kann sie ein
nachgerade affektiertes Grinsen nicht unterdrücken. Wenn
das nicht ein so wundervoller Anblick wäre, würde sie sich
für dieses

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