Die Mutter aller Stürme
Gefühl, keinen ›Spielfilm‹ zu
sehen; und obwohl er letzten Endes doch nicht sicher ist, was davon
dokumentarisch ist und was nicht, muß die Authentizität
ziemlich groß sein.
Louie betrachtet Menschen, die bis auf die vierzig
Angehörigen ihres Stammes noch nie andere Menschen gesehen
hatten und jetzt der ganzen Welt vorgeführt werden. Er
beobachtet Tiere bei der Kopulation, wie sie sich gegenseitig
töten, alt werden und sterben. Er sieht, wie Seen zu
Wäldern und wieder zu Seen werden; er erfaßt die enorme
Komplexität der Flugbewegungen eines Kondors und die
Schlichtheit des Stickstoff-Zyklus.
All das gefällt ihm sehr. Eine der interessantesten
Erkenntnisse der Kreativitäts-Forscher (und plötzlich
entdeckt Louie sein Interesse an der Kreativität, beschafft sich
binnen weniger Minuten alle zu diesem Thema verfaßten Studien,
liest sie durch und bildet sich eine eigene Meinung) besagt,
daß auf einer tieferen Ebene die Komplexität unserer
Wahrnehmungen mit einem ästhetischen Vergnügen
verknüpft sei – wobei diese Ästhetik manchmal mehr auf
dem Wahrnehmungsvorgang als auf der Komplexität des Objekts
selbst beruht.
Wir empfinden die Natur deshalb als ästhetisch, weil sie auf
einigen wenigen, einfachen Prinzipien basiert: dem
Raum-Flächen-Gesetz; Fraktalen; Spiralen; den mathematischen
Gesetzmäßigkeiten, die Wellen, Rädern,
trigonometrischen Funktionen und harmonischen Schwingungen
gleichermaßen zugrundeliegen; die Bedeutung des Quotienten
kleiner Primzahlen; bilaterale Symmetrie; Fibonacci-Reihen, Goldene
Sektoren, Quantisierung, fremde Attraktoren, Pfad-Abhängigkeit,
all die Dinge, die überall dort auftauchen, wo man nicht mit
ihnen rechnet… diese Paradigmen stehen ständig und auf
allen Ebenen in einer kooperativen und konkurrierenden
Wechselbeziehung, so daß sich aus ihrer intrinsischen
Simplizität die Komplexität der Welt ergibt, in der wir
leben. Dieses Spannungsfeld – zwischen den einfachen Regeln,
welche die Welt erklären und der komplexen Welt, die wir
wahrnehmen – ist selbst einfach strukturiert und
gleichermaßen höchst komplex in seinen Auswirkungen.
Deshalb sind die Ebenen, Kombinationen und Relationen von
Komplexität, die anscheinend die Struktur der Lustzentren des
menschlichen Gehirns definieren – oder sind sie vielleicht doch
integrale Komponenten von Intelligenz und Wahrnehmung? – auch
Merkmale der Außenwelt.
Louie begrüßt es in hohem Maße, daß wir so
konstruiert sind, die Welt, in der wir leben, zu mögen.
Mittlerweile hat er sich eingehend mit Kunst befaßt, die
überwiegend visuell ausgerichtet ist, und nun, da sein Blick
geschärft ist, interessiert er sich weniger für die Kunst
und mehr für die Natur. Alle möglichen Vorgänge
spielen sich dort ab: Tautropfen auf Blättern, verbrannte
Berghänge, die wieder vom Wald in Besitz genommen werden, die
Aufhebung der durch die Füße einer Ente erzeugten
Oberflächenspannung, wenn der Vogel sich in die Luft erhebt, und
das Absinken der Erdkruste in den Mantel.
Es ist eine endlose Palette; zu Vergleichszwecken reichert er sie
mit Daten von anderen Planeten an und bringt sogar noch ein paar
Orbiter im Startplan unter, so daß er auf dem Rückflug
jedes größere Objekt im Sonnensystem überwacht. Aber
dennoch weiß er jetzt schon, daß die Erde sein
Lieblingsplanet ist… die belebte Erde natürlich, mit ihrer
Sauerstoff-Atmosphäre, der Plattentektonik und dem
Wasserkreislauf, der ständig die Konturen der Küsten
verändert, wo eine winzige Temperaturänderung katastrophale
Auswirkungen hat…
Er sieht, daß auch ohne seine Intervention ›Clem‹
und dessen Ableger nicht das Ende allen Lebens auf der Erde bedeuten
würden, vielleicht nicht einmal das Ende der menschlichen Rasse.
Wo seine Lebenserwartung nun gegen unendlich geht (denn er kann sich
nach Belieben selbst warten und kopieren) könnte Louie sich nun
zurücklehnen und beobachten, wie die Erde sich wieder
regeneriert, die leeren Nischen wieder besetzt, die Nischen zwischen
diesen neubesetzten Nischen und so weiter…
Er könnte wohl, aber er mag die Erde so, wie sie ist.
Muß wohl sentimentale Anhänglichkeit sein.
Am 20. August kreuzt Louie Tynan den Jupiter-Orbit, etwas mehr als
fünf Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt. Der
Riesenplanet selbst steht noch weitab; es handelt sich hierbei um
eine rein willkürliche Grenze, eine imaginäre Linie, die
eine Ellipse im schwarzen Vakuum markiert. Jupiter ist der erste
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