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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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wieder
aufbauen und weitermachen? Das tun alle. Daß sie beim
Wiederaufbau Amerikas auf sie zählt? Stellt sich nur die Frage,
ob dieses Land nach dem Wiederaufbau noch Amerika sein wird; wer
weiß, welche Regierungsform und welche Politik danach zum Zuge
kommen wird. »Die Republikaner wählen«, beendet sie
ihren Satz.
    Lorraine lacht. »Ihr Vater wird mich zwar erschießen,
aber ich werde es ihnen trotzdem sagen. Hermann und ich haben seit
Jahren nämlich immer verschiedene Parteien
gewählt.«
    Glucksend widmet sie sich der Bedienung der Kaffee- und
Hot-Dog-Maschine, und Lynn wendet ihre Aufmerksamkeit wieder den
aktuellen Aufgaben zu.
    »Chefin?« sagt einer der jungen Männer, der ein
T-Shirt trägt, das einmal weiß war, und eine Krawatte, die
einmal rot war.
    »Ja?«
    »Wir haben über einen privaten Kanal Kontakt mit Mary
Ann Waterhouse – Carla hat uns gerade angerufen und uns eine
Datennummer gegeben, die wir anrufen sollten, und es hat
geklappt.«
    »Stellen Sie Ms. Waterhouse zu mir durch.«
    Der nette junge Mann telefoniert noch kurze Zeit, und dann bringt
er ein Haarnetz und eine Schutzbrille, und Lynn setzt beides auf.
    Ihr Blick wird sofort wieder klar, und sie stellt fest, daß
sie sich neben Jesse die Straße entlangschleppt. Vor
›Clem‹ hätte diese Straße bei trockenem Wetter
für eine untrainierte Person einen mittleren Schwierigkeitsgrad
aufgewiesen, aber jetzt hat man den Eindruck, in knöcheltiefem
Wasser flußaufwärts zu waten. Die von Oaxaca nach Monte
Alban führende Straße ist schmal, und obwohl sie ganz
ordentlich befestigt ist, ist sie nicht gut in Schuß. Lynn
erinnert sich vage, daß Mary Ann diesen Ort besuchte, als sie
gerade erst beim XV angefangen hatte, und daß sie von dem hohen
Berg auf die weiße Stadt, die sich unter ihm erstreckt,
hinuntergeblickt hatte. Es muß sehr schön gewesen sein im
satten Grün des Vulkanbodens in diesem Gebiet, und vielleicht
wird es wieder so werden.
    Aber in diesem Augenblick ist die Straße kaum vierzig Meter
weit einzusehen. »Hier ist die Präsidentin, Jesse«,
sagt sie durch Mary Anns Körper, und irgendwie fühlt sie,
daß eine Milliarde Menschen die Situation mit ihren Augen
betrachten.
    »Hallo«, sagt er, »es sieht ganz so aus, als
würden wir bald dort hinaufgelangen. Louie Tynan hatte sich
gerade zugeschaltet, um sich einige Minuten lang über Mary Ann
mit mir zu unterhalten; es scheint, daß er und Carla dort oben
etwas vorbereiten, seitdem sie uns kontaktiert und die Kolonne
umgeleitet haben. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber
irgendwie hat er es in den letzten zwei Minuten geschafft, den Regen
einzustellen, und er sagt, der Himmel werde gerade dann aufklaren,
wenn wir dort ankommen, aber es werde nicht lange anhalten. Ich
weiß nicht, was sie vorhaben.«
    »Wir auch nicht. Meinst du Louie und Carla?«
    »Ja.«
    »Wir können nur hoffen, daß sie uns mögen;
die beiden könnten nämlich mit dem Planeten machen, was sie
wollen. Wie geht der Marsch voran?«
    »Wir haben viele Leute verloren, die einfach nur in Oaxaca
ein Dach über dem Kopf haben wollten, aber es ist auch eine
Menge anderer Leute dazugekommen, die entweder schon Unterkunft
gefunden oder einfach die Hoffnung aufgegeben hatten. Soweit die
Leute, die nach hinten laufen, um das zu überprüfen,
feststellen konnten, sind wir hunderttausend Personen. Bis sie alle
in Monte Alban eintreffen, wird es ungefähr vier Stunden dauern.
Was dann geschieht, weiß Gott allein.«
    »Ich verstehe, Jesse. Niemand erwartet von dir, daß du
das alles durchführst oder überwachst. Halte mich nur auf
dem laufenden, so gut du kannst.«
    Sie unterhalten sich noch ein paar Minuten; es hört sich so
an, als sei die Menschenmenge seit Oaxaca um das Doppelte
angewachsen, weil sich dort so viele Menschen aus den umliegenden
Tälern zusammengefunden hatten und auf den Zug warteten, um sich
ihm anzuschließen. Oaxaca selbst hatte den Hurrikan erstaunlich
gut überstanden; der Zócalo ist noch in gutem Zustand,
und sofern – oder sobald, wenn man Carla und Louie glauben will
– die Sonne wieder über Oaxaca scheinen wird, würde es
dort genauso gemütlich sein wie ehedem. Lynn fühlt, wie
Mary sich daran erinnert, daß sie dort draußen im Licht
des frühen Morgens saß, während das helle Licht und
der warme Wind den Platz mit einer Art pulsierendem Leben
erfüllten und das filigrane schmiedeeiserne Gerüst des
Zentralgebäudes in makellosem Weiß mit dem tiefen Blau des
Himmels
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