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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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Ohne Schminke und trotz der schmutzigen Jeans und des
schmutzigen T-Shirts, die ihr durch den Regens und den Schweiß
am Körper kleben, hat Mary Ann immer noch einen perfekten
Körper, aber sie wirkt seltsam menschlich, als ob sie sich mit
ein bißchen mehr Anstrengung wieder in die menschliche Rasse
integrieren könnte, der sie entrissen wurde. Jesse gefällt
es.
    »Weißt du, wie es jetzt weitergeht?«
    »Nicht genau. Ich kann nur einige Vermutungen anstellen.
Louie und Carla haben nun die Kontrolle über die XV-Versorgung
des ganzen Planeten. Und nach Aussage der Präsidentin
verfügen sie auch über die physikalischen Ressourcen und
die Informationen, die sie benötigen, um alles zu tun, was ihnen
vielleicht noch einfällt. Ich glaube, hier kündigt sich die
neue Weltordnung an, die uns zum bloßen Werkzeug degradiert und
sich all die billigen XV-Garnituren zunutze macht, die wir abgeworfen
haben, um den Globalen Aufstand zu stoppen.«
    »Und für diesen Zweck ist es kein schlechter Ort –
geradezu das perfekte Umfeld. Ich war vor langer Zeit schon einmal
hier.«
    »Monte Alban ist eine alte Stadt der Zapoteken – sie
wurde verlassen, bevor die Spanier hier auftauchten; deshalb kennt
man nicht einmal ihren indianischen Namen. Als ich dort war, hatte
man dort gerade die interaktive Holographie eingeführt –
und einen ultraschnellen Parallelrechner, auf dem diese Software
läuft.« Sie seufzt. »Es war mein zweiter
Außendiensteinsatz überhaupt… es war eine verdammt
merkwürdige Zeit, Jesse.«
    »Wenn du mir davon erzählen willst – ich hätte
Zeit und Interesse.«
    »Du und eine Milliarde Zuhörer…«
    »Ist es etwas Persönliches?«
    »Wenn eine halbe Milliarde Menschen einem beim Bumsen
zugesehen haben, und eine andere halbe Milliarde über deine
Vagina verfügt hat, ist ›persönlich‹ nur ein
relativer Begriff, Jesse. Nein, ich glaube, ich befürchtete, sie
zu langweilen. Aber wenn irgend etwas von Bedeutung geschieht,
können Louie und Carla sich einfach einschalten, und wenn sie
sich langweilen, werden sie vielleicht abschalten und sich mit etwas
Realerem beschäftigen als mit diesem Zirkus.«
    »Das wird dein Netz aber gar nicht gerne hören.« Er
grinst sie an und läßt seine Hand zu ihrer Schulter
hinaufgleiten; sie zieht seine Hand herunter, so daß sie auf
ihrem Busen zu liegen kommt.
    »Nein, aber sie haben mir in letzter Zeit auch keine
Gehaltsschecks mehr geschickt, und wenn ich dann noch die ganzen
Zulagen mitrechne, die mir dafür zustehen, daß ich selbst
im Urlaub noch arbeite, können sie sich glücklich
schätzen, wenn ich ihnen überhaupt noch etwas
liefere.« Sie schmiegt sich an ihn. »Außerdem, ihr
Voyeure, stecken wir in der schlimmsten Krise der
Menschheitsgeschichte, und es gibt viele bessere Möglichkeiten,
sich Informationen zu verschaffen. Wir werden in ungefähr einer
Stunde in Monte Alban sein. Warum tut ihr nicht alle einfach etwas
Nützliches?« Dann fügt sie, zu Jesse gewandt, hinzu:
»Das werden sie natürlich nicht tun«, und ihr Gesicht
nimmt einen seltsamen, in die Ferne gerichteten Ausdruck an, bevor
sie hinzufügt: »Carla sagt, etwa sechs Millionen Menschen
hätten sich gerade ausgeklinkt, also besteht doch noch etwas
Hoffnung für die Welt. Will da vielleicht noch jemand Mary Anns
›Langweilige Reminiszenzen des Ersten Besuchs von Synthi Venture
in Monte Alban‹ hören?«
    »Weiter im Text«, verlangt Jesse.
    »Gut, Mami erzählt Bübchen eine Geschichte.«
Er kitzelt sie wegen dieser Neckerei, und sie kreischt und kitzelt
ihn auch; es endet dann damit, daß sie sich umarmen und sich
küssen, bevor sie Hand in Hand den Aufstieg auf den matschigen
Serpentinen fortsetzen. Es macht riesigen Spaß, und Jesse wird
plötzlich klar, daß er, obwohl er den größten
Teil seines Lebens XV-Nutzer ist, sich dabei nur sehr selten ganz
spontan amüsiert hat wie in der guten alten Zeit. Er fragt sich,
ob das nun eine Funktion des Mediums oder der Netz-Gesellschaften
ist, oder ob das, was man den XV-Darstellern zumutet, die
Fähigkeit zerstört, diese Art von Vergnügen zu
genießen. Mary Ann indes scheint diese Fähigkeit nicht
verloren zu haben…
    Sie bleiben einen Augenblick stehen, um Atem zu holen, und
verlangsamen den Schritt, damit Mary Ann reden kann.
    »Egal«, sagt sie, »es war nichts Schlimmes, aber
ich merkte zum ersten Mal, daß ich für mein Gehalt viel
mehr tun mußte als das, was ich ausgehandelt hatte. Die
mexikanische Regierung war entschlossen, den
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