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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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als
einen romantischen Roman zu betrachten, in Frage stellte. Vielleicht
gab es wirklich nicht überall stattliche Liebhaber, und
vielleicht hatten die Nachrichten aus Mexiko auch noch einen anderen
Wert, als nur einen guten Hintergrund für diese Art von
Geschichten abzugeben. Vielleicht war es einfach nicht so wie bei
anderen Produktionen, wo an verschiedenen Orten und in verschiedenen
Kostümen gedreht wird, und wenn es nicht so war, dann war es
vielleicht notwendig, die Wahrheit zu erfahren. Weiß Gott,
wohin es geführt hätte, wenn ich den Hauptdarsteller
abgewiesen hätte – vielleicht hätte es die Zuschauer
sogar zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß sie
selbständig fühlen und denken müssen.«
    Sie schüttelt heftig den Kopf und wischt sich das Wasser und
die Haare aus dem Gesicht. »Verdammt. Ich bin immer noch
wütend, weil ich damals nicht den Mut hatte, wütend zu
werden.« Jesse bemerkt zum x-ten Mal, daß ihre Augen
wirklich so groß sind, wie sie im XV aussehen, aber das kommt
vor allem daher, daß sie ein extrem hageres Gesicht hat –
er weiß nicht, ob infolge einer Diät oder einer Operation,
aber auf jeden Fall hat sie das Gesicht einer Verhungerten.
    Sie seufzt. »Egal, jedenfalls hatte ich schon großen
Ärger mit dem Management von Passionet, bevor ich nach
Monte Alban kam. Sie hatten ein Auge auf mich, weil sie
befürchteten, ich würde ihnen das Spiel verderben, indem
ich mich nicht richtig gebe.
    So kamen wir schließlich nach Monte Alban, und rein
zufällig fiel das System kurzzeitig aus – in der Nähe
war der Blitz eingeschlagen und obwohl es keine ernsthaften
Schäden gab, waren alle Not-Aus-Systeme aktiviert worden, und es
dauerte seine Zeit, alles wieder anzuschließen, zu
überprüfen und hochzufahren.
    Ich weiß nicht, was ich dir konkret erzählen soll;
vielleicht wirst du es selbst sehen. Dein erster Eindruck von der
Stadt wird sein, daß sie schrecklich alt ist.
Natürlich gibt es in Europa, Asien und Afrika noch viel
ältere Siedlungen, und Yucatán ist auch viel
älter… aber das tut nichts zur Sache. Das Wetter hier oben
auf dem Berg, das Klima, die lange Zeit, in der die Stadt verlassen
dalag – alle diese Faktoren zusammen überwältigen dich
einfach – all die zerbröckelnden Mauern, das Gefühl,
daß schon sehr lange keine Menschen mehr hier waren. Und du
hast das Gefühl, von der Stadt aus könntest du Millionen
von Kilometern weit blicken – du schaust über dieses ganze
weite, feuchte, grüne Land, hinunter auf Farmen und Dörfer
und auf die Stadt Oaxaca, und man ertappt sich bei dem Gedanken, wie
lang ein Jahrhundert ist, wie viele Jahrhunderte schon verstrichen
sind und daß jahrhundertelang Menschen hier oben gestanden und
gedacht haben – woran? Man wird es nie erfahren, aber das Land
muß so ähnlich ausgesehen haben wie heute.
    Und man muß auch gehörig kraxeln, um zu einigen Ruinen
zu gelangen, und weil sie irgendwie kompliziert sind, begreift man
nach einer Weile, daß man nicht imstande ist, alle
Eindrücke zu verarbeiten; man würde schon einen ganzen Tag
brauchen, nur um die Architektur eines Gebäudes in ihrer ganzen
Schönheit und Komplexität zu erfassen – und dann
weiß man immer noch nichts von den Menschen, die hier gelebt
haben, außer den Fragmenten von Kunst- und
Gebrauchsgegenständen, die sie hinterlassen haben, und den
wenigen Dingen in ihren Gräbern, die nicht von Grabräubern
mitgenommen wurden.
    Ich hatte das Museum von Oaxaca besucht, wo diese Dinge aufbewahrt
werden – in Gold gefaßte Juwelen, Statuen aus Jade und
Onyx und so weiter – und dann ertappte ich mich dabei, wie mir
die Erinnerungen an dieses Gegenstände im Kopf herumgingen und
ich versuchte, sie in dieses Bild einzuordnen. Und das alles im
schönsten Sonnenschein, nachdem am Tag zuvor ein Sturm den
Himmel blankgeputzt hatte, und im Angesicht dieser tiefen, scharf
gezeichneten Schatten, welche die Gebäude in den Tropen immer
werfen… Es gab weitere Verzögerungen, und ich forschte
weiter. Als sich endlich herausstellte, daß es längere
Zeit ruhig bleiben würde, bestieg ich die südliche
Pyramide, blieb einfach eine Zeitlang dort sitzen, während sie
zusammenpackten – Herr Schöngesicht hatte nicht einmal mehr
die Kraft, mir nachzusteigen und vor mir zu posieren –, und
schaute hinunter auf die Stadt, die seit Jahrhunderten menschenleer
gewesen war, nachdem sie zuvor ungefähr zweitausend Jahre lang
von Menschen bewohnt gewesen war.
    Ich fühlte, wie die
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