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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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ganzen Enttäuschungen und der
Ärger, den ich in Oaxaca gehabt hatte, von mir abfielen;
angesichts einer jahrhundertealten Kulisse verblaßten alle
anderen Dinge.
    An diesem Punkt hat es ihnen wahrscheinlich gedämmert,
daß sie mir endlich die richtige Einstellung beigebracht
hatten. Mich kümmerte das aber nicht; mein Gott, es war so
schön. Deshalb – und natürlich wegen des Geldes
– hatte ich unterschrieben, mich für XV ummodeln zu
lassen.«
    Sie lächelt ihn an und wirft ihm unter den Augenlidern hervor
einen Blick zu, bei dem er selbst dann dahingeschmolzen wäre,
wenn sie nicht schon fast seit seiner ganzen High School-Zeit in ihn
verliebt gewesen wäre. »Du wirst dir wohl denken, was dann
geschah. Sie sagten mir, sie wären fertig, und ich stieg von der
Südlichen Pyramide hinab – sie ist so hoch, daß sie
alles überragt; und so hatte ich beim Abstieg eine schöne
Aussicht über das ganze Tal, und da mein spezieller Kollege auch
dort unten stand, bekam er mich von der besten Seite zu sehen.
    Und dann bekam ich Ärger. Die Szene wurde mit einem Hologramm
überlagert – wahrscheinlich war es eine archäologische
Rekonstruktion. Einige der Leute, die dieses Hologramm angefertigt
hatten, werden sich sicher für Archäologen gehalten haben,
aber plötzlich sahen wir, daß alle diese Leute in
Azteken-, Maya- und Barbaren-Kostümen steckten und sich wie in
einem Epos von Cecil B. DeMille aufführten. Da gab es Anleihen
aus ›Chariots of the Gods‹, für die
Jesus-Anhänger wurde das Thema
›Quetzalcoatl-war-Jesus‹ variiert, den
New-Age-Anhängern wurden Kristalle und Schamanismus geboten, und
der Rest durfte reichlich Orgien und Menschenopfer, euren typischen
Sex-und-Gewalt-Mix, goutieren… und das Schlimme war, ich war im
Museum gewesen, hatte viel über diese Kultur gelesen, ich
wußte, welch ein Hokuspokus diese Darbietung war, wie wenig
Material es überhaupt über diese Zeit gab, und daß
man trotz der wenigen Indizien erkannte, daß das, was einem da
geboten wurde, einfach nicht authentisch sein konnte… es
erinnerte mich gleichermaßen an eine Hollywood-Produktion und
Anwaltsgeschwätz, eine Mischung aus verschiedenen Trends
für Schickimickis…« Sie verstummt kopfschüttelnd,
wendet sich ab und wirft einen Stein ins Unterholz. Lange Zeit
schlendert sie einfach die Straße entlang und genießt den
warmen Regen.
    »Was ist dann geschehen?« fragt Jesse
schließlich.
    »Ich mußte lachen. Im Vergleich zur Realität waren
die Holos so peinlich und sollten den Menschen offensichtlich die
›erstaunlichen‹ Dinge vorgaukeln, die sie erwarteten,
anstatt ihnen zu zeigen, wie fremdartig und eindrucksvoll es wirklich
war… kurz, der Kontrast war einfach lustig, das kannst du
mir glauben.
    Dann stellte sich heraus, daß der neben mir stehende Herr
Schön-Blöd von den holografischen Bildern tief beeindruckt
gewesen war. Vor ihrer Präsentation hatte er nur einen
Felsstapel gesehen. Ich ruinierte die andächtige
Atmosphäre, die sie simulieren wollten, und er kam sich ein
bißchen klein vor – und das ist auf einem Romantik-Kanal
wie Passionet das einzige, was dem Hauptdarsteller nie
passieren darf. Außerdem bestand das Gros der Zuschauer aus
Leuten, die sich wie Kosmopoliten fühlen möchten, ohne sich
indessen den damit verbundenen Risiken auszusetzen – und mein
Gelächter traf einen blanken Nerv.« Eine tiefe Bitterkeit
liegt in ihrer Stimme, als ob sie es noch immer nicht verwunden
hätte.
    »Trotzdem hat man dich nicht gefeuert?«
    »Nein, man gab mir eine allerletzte Chance. Spiel deine
nächste Rolle gut, oder es ist aus.«
    »Und was war die nächste Rolle?«
    »Sie liehen mich an den Vice Channel aus, der mich
für drei Monate in einen Puff in Macao steckte. Unter einem
anderen Namen – Passionet wollte seine Investitionen in
Synthi Venture schützen – aber das war für Mary Ann
Waterhouse kein großer Unterschied. Ich war froh, als ich
endlich zurückkehren und mich wieder von
Millionen-Dollar-Gesichtern mit Drei-Dollar-Gehirnen herumschubsen
lassen durfte und mal wieder etwas anderes zu sehen bekam als drei
Schlafzimmer, zwei Kerker und das Wohnheim.«
    Jesse weiß nicht, was er dazu sagen soll. Wieder einmal wird
ihm bewußt, daß Synthi beinahe doppelt so alt ist wie er;
zum Teufel, als sie so alt war wie er, war XV noch nicht einmal
implementiert. Und als er seine ersten Worte sprach – und Di ihn
auf den Schultern zu einem Football-Spiel der High-School trug –
war Synthi…
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