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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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es fällt schwer, sich das alles
vorzustellen.
    Sie ergreift seine Hand, und sie setzen die Wanderung fort, wobei
sie sich gegenseitig den Arm um die Hüfte legen. Dadurch
verlangsamt sich ihr Schritt, aber wenn es zu langweilig wird, kann Passionet noch immer ein paar Werbespots mehr oder sogar
richtige Nachrichten senden.
     
    Sie umarmen sich und berühren einander über Zehntausende
von Antennen: Louie und Carla. Sie haben immer weniger das
Gefühl, irgendwo zu ›sein‹; mit jeder Mikrosekunde
wird die Trennung vom Körper endgültiger. Aber aus
Gründen, die sie trotz ihrer ungeheuren Potentiale nicht genau
bestimmen können, bleibt Louie hauptsächlich auf dem Mond
und 2026RU und Carla in den Netzen auf der Erde; sie haben
beschlossen, einander zu berühren, sich aber nicht zu
vereinigen.
    Mit jeder Sekunde überträgt Carla mehr Daten an Louie,
und sie führen endlose Diskussionen, simulieren Resultate,
experimentieren. In einer Sekunde findet zwischen ihnen ein
größerer Austausch statt, als es zwischen tausend
biologischen Menschen in tausend Jahren der Fall wäre; neue
Ideen werden binnen fünf Sekunden genauso komplex, paradox,
facettenreich und epistemologisch wie Christentum, Kunst, die
japanische Sprache oder Mathematik, und werden dann ad acta gelegt
oder verschmelzen mit anderen Ideen.
    Man darf mit Fug und Recht behaupten, daß sie sich noch
immer mögen – sogar mehr als je zuvor, denn sie sind
für sich die Einzigen.
    Währenddessen kommt Louie nebenbei seinen eigentlichen
Obliegenheiten nach. Die Eisscheiben jagen über den Pazifik und
blenden mit ihrem Schweif aus Eiskristallen die Sonne aus; als die
Kristallwolken sich der Tag-Nacht-Grenze nähern und diese
ihrerseits auf die Wolken zukriecht, blitzen Louies Maser auf und
erhitzen die Kristalle so stark, daß der leichtere Wasserstoff
vom Sauerstoff abgespalten wird und so in den Weltraum entweicht.
    Erst nach einiger Zeit wird ihm bewußt, daß er
über sich selbst nachdenkt. Das Frisbee-Werfen macht ihm noch
immer Spaß. Wenn er noch einen Körper hätte,
würde er jetzt glauben, das sei eine Drüsenfunktion oder
werde zumindest von irgendeinem Lustzentrum im Gehirn gesteuert; aber
er hat eben keinen Körper mehr. Auch wenn er kein
körperliches Bedürfnis nach Sex, keinen Hunger und keine
Sättigung mehr spürt – er hat noch immer Spaß,
er ist noch immer in Carla verliebt, und er ist noch immer traurig
darüber, welche Wendungen bestimmte Dinge in seinem Leben
genommen haben.
    Das größte Mysterium überhaupt – er hat den
größten Teil der verfügbaren Daten der meisten
Bibliotheken in sich aufgenommen und schließlich festgestellt,
daß niemand ihn mehr an Wissen übertrifft – besteht
darin, daß er immer noch lacht. Ja, er lacht sogar immer mehr,
je mehr er lernt, je mehr er die menschlichen Kapazitäten
transzendiert. Er befaßt sich gerade einmal acht oder neun
Sekunden mit diesem Aspekt (das Äquivalent einer ein Jahrhundert
dauernden Unterhaltung zwischen den Athenern zur Zeit des Perikles
und den Einwohnern von Sevilla zur Zeit der großen Kalifen),
bis er die Unlösbarkeit des Problems erkennt, und dann lacht er
länger und lauter als je zuvor.
    Carla unterbricht sein Gelächter, läßt sich den
Scherz erzählen und lacht dann selbst einige Sekunden lang. Dann
übermittelt sie ihm einige der wissenschaftlichen Arbeiten, die
sie erstellt hat. Nach gründlichen Untersuchungen ist Carla zu
dem Schluß gekommen, daß der Artenverlust durch die
völlige Ausblendung von UV-Strahlung auf der Erde zwar
bedauerlich, aber nicht allzu gravierend ist; trotz der Vernichtung
vieler Habitate und des Untergangs der dort lebenden Arten wird der
große Umfang der neuentstandenen Habitate eine neue
Artenvielfalt hervorbringen, wenn man sie nur lange genug
ungestört läßt. Ohne daß die Geldinstitute es
wüßten, hat sie die Kontrolle über die Banken des
Planeten erlangt, und sie wird sie an eine vollautomatisierte
Wirtschaftsform heranführen – eine Wirtschaftsform, in der
die Maschinen die Prioritäten setzen und die Menschen das tun,
was ihnen zuträglich ist.
    Und sie hat definitiv entschieden, daß die neuen
Feuchtgebiete, Wüsten und Schlammebenen unangetastet bleiben
werden.
    Keiner von beiden ist jemals besonders gut mit seinen Mitmenschen
ausgekommen, aber sie werden mit ihnen kooperieren müssen;
außerdem wissen sie jetzt viel mehr über die Menschen als
früher. Louie und Carla Tynan arbeiten zusammen, und sie
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