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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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immer der beste Tag des Jahrzehnts, zumindest was Klieg
betrifft. Nachdem sie zu Glindas Wohnung zurückgekehrt sind und
Derry zu Bett gebracht haben, wenden sie sich wieder dem Küssen
zu, und die beiden bemühen sich herauszufinden, wieviel sie noch
davon verstehen.
     
    Es heißt immer, daß, wenn Paare auseinandergehen, sie
trotzdem noch Freunde bleiben könnten, und jetzt bietet sich die
Gelegenheit, die Substanz dieser Prämisse zu
überprüfen. Außerdem möchte Jesse
ergründen, ob er ›Fräulein Ethik‹
eifersüchtig machen kann.
    Leider ist sie nicht auf dieser Party erschienen.
    Ohne Naomi an seiner Seite, die ihn mitschleppt und ihm das Reden
abnimmt, muß er jetzt selbst mit den Leuten Konversation
pflegen, und dabei fallen ihm einige Dinge auf. Zum einen gibt es
einige Leute, die sehr ernsthaft wirken, aber an überhaupt
nichts glauben. Dann gibt es einige Gestalten, die anscheinend
Schwierigkeiten haben, morgens überhaupt aus dem Bett zu kommen;
mittlerweile ist allgemein bekannt, daß es sich bei der
Vereinigten Linken eher um einen Lebensstil als um eine politische
Organisation handelt, aber wenn er bedenkt, daß diese Leute
– oder andere ihrer Couleur – jemals beschuldigt wurden,
den Blitz ausgelöst zu haben… einfach
lächerlich.
    Der für ihn interessanteste Aspekt ist indessen, daß er
mit den Frauen anscheinend richtig gut klarkommt. Er hatte bisher
noch gar nicht begriffen, wieviel von Naomi auf ihn abgefärbt
hatte – er kann der politischen Diskussion problemlos folgen,
und indem er sich ein wenig indifferent gibt, zieht er
verblüffend viel Aufmerksamkeit von jungen Frauen auf sich, die
ihn für ihre Position vereinnahmen wollen.
    Plötzlich kommt ihm der Gedanke, daß Naomi ihm mit
ihrer Abfuhr vielleicht gar keinen größeren Gefallen
hätte tun können.
    Nicht, daß er damals, als er noch ein dummer Schuljunge war,
diese Frauen als besonders attraktiv bezeichnet hätte. Sie sehen
alle wie lebende Fossilien aus, die noch aus der Mitte des
zwanzigsten Jahrhunderts stammen; in einer früheren
Soziologie-Vorlesung hatte der Professor erklärt, daß,
wenn eine politische Bewegung sich nur noch auf utopische Paradigmen
oder gesellschaftlich irrelevante Themen fixiert, sie zunehmend den
Charakter eines Kultes oder einer Religionsgemeinschaft annimmt,
einschließlich einer spezifischen Kleidung und Sprache. Er
erinnert sich an einige junge Frauen mit wallendem Haar, sackartigen
Röcken und Sandalen; als dann okkulte Handlungen einsetzten, ist
er geflohen.
    Was ihm jetzt indes auffällt, ist, daß keine einzige
Frau geschminkt ist, aber dank Naomi ist er ja daran gewöhnt,
und er hat mittlerweile auch gelernt, die Konturen eines Körpers
unter einem sackartigen Kleid zu bestimmen. Viele dieser Frauen haben
phantastische Körper – und ein verstärktes Interesse,
ihn zu Versammlungen einzuladen und seinen Horizont zu erweitern. Er
vermutet, daß er nicht der einzige ist, der es gern sähe,
wenn Naomi sich vor Eifersucht verzehrte.
    Und in einer Subkultur, in der Flirts nicht praktiziert werden,
sind alle viel offener als die Mädchen, mit denen Jesse
aufwuchs. Sie rücken dicht auf, poussieren, lächeln und
schauen ihm direkt in die Augen. Ein Mann könnte sich daran
gewöhnen.
    Da fällt ihm die Unterhaltung mit den Männern viel
schwerer, obwohl sie alle recht höflich sind. Sie interessieren
sich nicht für Sport, bewegen sich nur virtuell in der freien
Natur (und Jesse hat noch nie Geschmack an XV-Ausflügen gefunden
– sie haben zuviel Ähnlichkeit mit einer Exkursion mit
geschwätzigen Professoren). Außerdem fürchten die
meisten so sehr, ihre Freundinnen zu dominieren, daß sie ihre
wirklichen Ansichten in der Gegenwart einer Frau nicht preisgeben.
Aber es gibt auch einige unverfängliche Themen – so besteht
zum Beispiel ein allgemeiner Konsens darüber, daß die
Technologie für AKTS verantwortlich ist, weil sie den Menschen
den Sieg über AIDS ermöglichte, und daß SPM seine
Entstehung dem Evolutionsdruck der Antibiotika zu verdanken hat, der
die Syphilis zu einer Krankheit ohne erkennbare Symptome mutieren
ließ. Außerdem besteht ein genereller Konsens
darüber, daß Doug Llewellyn und Passionet für
die irreversible Regression der Massenpsyche verantwortlich sind.
Alle sind der Ansicht, daß aufgrund der allgemeinen Lethargie
die Vereinigte Linke dieses Jahr gute Aussichten auf das
Präsidentenamt habe, selbst wenn sie sich bis November noch
nicht auf einen Kandidaten

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