Die Mutter der Königin (German Edition)
Stadtmauern angrenzenden Gemüsegärten abgelöst werden. Wir reiten durch das nordwestliche Stadttor in der Nähe des Louvre und erreichen alsbald mein Pariser Zuhause, das Hôtel de Bourbon, eines der prächtigsten Häuser der Stadt, wie es dem Herrscher von Frankreich gebührt. Es liegt direkt neben dem Königspalast, dem Louvre, und blickt nach Süden über den Fluss, wie ein Gebäude aus Zuckerwerk, ganz aus Erkern und Giebeln und Türmchen und Balkonen.
Ich hätte mir denken können, dass es ein prächtiges Haus ist, schließlich habe ich die Burg meines Lords in Rouen gesehen. Doch als wir auf das stattliche Tor zureiten, fühle ich mich wie die Märchenprinzessin, die man in die Festung des Riesen verschleppt. Eine befestigte Mauer läuft ringsherum, und an jedem Tor steht eine Wache, was mich – falls die Gefahr bestünde, dass ich es vergesse – daran erinnert, dass mein Gemahl zwar der Herrscher sein mag, dass ihn aber nicht alle als den Vertreter des Königs von Gottes Gnaden anerkennen. Der, den viele lieber den König von Frankreich nennen, ist nicht weit weg in Chinon, hält den Blick fest auf unsere Besitzungen gerichtet und schürt Unruhe. Der, den wir den König von Frankreich und England nennen, ist sicher in London, doch er ist zu arm, um meinem Gemahl das Geld und die Truppen zu schicken, die notwendig wären, um dieses treulose Land zu unterwerfen, und zu schwach, um seinen Lords zu befehlen, unter unserer Standarte zu kämpfen.
Mein Gemahl gewährt mir ein paar Tage, um mich in meinem neuen Haus einzuleben, die Schmuckschatulle der verstorbenen Herzogin und das Ankleidezimmer voller Pelze und edler Kleider zu finden. Doch eines Morgens kommt er nach der Andacht in mein Gemach und sagt: «Komm, Jacquetta, heute habe ich Arbeit für dich.»
Ich folge ihm wie ein Welpe durch die Galerie mit den Wandteppichen, von denen Götter auf uns herabblicken, zu einer Flügeltür am Ende, die von zwei Soldaten flankiert wird. Auf der Fensterbank sitzt Woodville. Als er mich sieht, springt er herunter und verneigt sich tief vor mir.
Die Soldaten öffnen die Türen, und wir gehen hindurch. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, doch gewiss nicht dies. Zuerst treten wir in einen Raum, so gewaltig wie eine große Halle, doch ausgestattet wie eine Klosterbibliothek: an den Wänden Regale aus dunklem Holz und darin Schriftrollen und Bücher, verschlossen hinter Messinggittern. Hohe Tische und Hocker, damit man die Schriftrollen bequem lesen kann. Auf einigen Tischen liegen Tintenfässer, Federn und Papierbögen bereit für ein eingehendes Studium. So etwas habe ich außerhalb eines Klosters noch nie gesehen, und ich sehe mit neuem Respekt zu meinem Gemahl auf. Er hat hier ein Vermögen ausgegeben: Jedes dieser Bücher wird so viel gekostet haben wie die Juwelen der Herzogin.
«Ich besitze die auserlesenste Sammlung von Büchern und Manuskripten außerhalb der Kirche in Europa», erzählt er. «Und ich habe meine eigenen Kopisten.» Er zeigt auf zwei junge Männer zu beiden Seiten eines Stehpults. Der eine psalmodiert fremde Worte, die er von einer Schriftrolle abliest, während der andere gewissenhaft schreibt. «Sie arbeiten an einer Übersetzung aus dem Arabischen», sagt mein Gemahl. «Aus dem Arabischen ins Lateinische und daraus ins Französische oder Englische. Die Mauren sind eine bedeutende Wissensquelle für die Mathematik und alle Wissenschaften. Ich kaufe die Schriftrollen und lasse sie übersetzen. So habe ich uns auf der Suche nach Erkenntnis in Führung gebracht. Ich zapfe direkt die Quelle an.» Er lächelt, plötzlich ist er freundlich zu mir. «So wie mit dir. Ich bin bis an die Quelle des Geheimnisses vorgedrungen.»
Mitten im Raum steht ein großer bemalter und mit reichen Schnitzereien versehener Tisch. Ich bin entzückt und trete näher, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er ist bezaubernd, wie ein kleines Land, wenn man es von oben betrachtet, wenn man hoch darüberfliegen könnte wie ein Adler. Es ist eine Miniaturansicht von Frankreich. Ich erkenne die Pariser Stadtmauer: Die Seine, die durch die Stadt fließt, ist blau gemalt, die Ile de Paris, in Form eines Schiffes mitten im Fluss, ein Gewirr aus Häusern. Dann bemerke ich, wie das Land unterteilt ist: Die obere Hälfte von Frankreich ist weiß und rot gehalten, in den Farben Englands, die untere Hälfte ist noch ohne Anstrich. Das Wappen der Armagnaken steht für den falschen König Charles auf seinen Besitzungen in
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