Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs
Und denk dran, den ganzen Bogen einzusetzen, denn hier steht ‹fortissimo›, mit ein bisschen mehr Strichtempo zum Schluss hin. Und vergiss auch nicht die Einwärtsbiegung des rechten Daumens und die Krümmung des linken kleinen Fingers. Jetzt los – spiel.»
Lulu reagierte damit, dass sie alle meine Anweisungen ignorierte. Wenn ich dann in Wut geriet, sagte sie: «Entschuldige – was wolltest du noch mal?»
Ein anderes Ausweichmanöver, während ich ihr Anleitungen gab, bestand darin, laut die Saiten zu zupfen, als wäre die Geige ein Banjo. Oder noch schlimmer – sie schwang sie durch die Luft wie ein Lasso, bis ich entsetzt aufschrie. Wenn ich ihr befahl, sich aufrecht hinzustellen und die Geige zu heben, ließ sie sich manchmal zu Boden plumpsen, streckte die Zunge heraus und tat, als sei sie tot. Und dazu der immerwährende Kehrreim: «Sind wir jetzt fertig?»
Dabei gab es Zeiten, zu denen Lulu ihre Geige wirklich zu lieben schien. Manchmal, wenn wir mit dem Üben fertig waren, wollte sie allein noch weiterspielen und erfüllte das Haus mit ihren schönen Klängen, über denen sie die Zeit vergaß. Manchmal wollte sie die Geige in die Schule mitnehmen und kam dann froh und mit roten Wangen zurück, nachdem sie der Klasse vorgespielt hatte. Oder sie kam zu mir gerannt, wenn ich am Computer saß, und sagte: «Mama, rate, was mir der liebste Teil bei diesem Bach-Stück ist?» Ich versuchte zu raten – in rund 70 Prozent der Fälle lag ich richtig –, und sie sagte darauf: «Woher weißt du das?» oder: «Nein, dieser Teil – ist das nicht hübsch?»
Hätten wir nicht auch solche Momente erlebt, hätte ich wahrscheinlich aufgegeben. Oder auch nicht. Jedenfalls hegte ich wie bei Sophia und dem Klavier die größten Hoffnungenfür Lulu und ihre Geige. Sie sollte den Großen Konzertwettbewerb von New Haven gewinnen, damit sie ebenfalls als Solistin in der Battell Chapel auftreten konnte. Sie sollte Konzertmeisterin des besten Jugendorchesters werden. Sie sollte die beste Violinistin des Bundesstaats werden – und das war erst der Anfang. Nur so konnte Lulu glücklich werden, da war ich mir sicher. Deshalb zwang ich sie, umso länger zu spielen, je mehr Zeit sie mit Haarspaltereien, mit halbherzigem Üben, mit Herumkaspern vergeudete. «Wir üben dieses Stück jetzt, bis es sitzt», sagte ich. «Egal, wie lang es dauert. Du hast es in der Hand. Notfalls bis Mitternacht.» Und auch das kam vor.
«Meine Freundin Daniela war total baff, wie viel ich übe», sagte Lulu eines Nachmittags. «Sie konnte es nicht fassen. Als ich sagte, sechs Stunden am Tag, hat sie mich sooo angeschaut –» Und sie imitierte eine Daniela mit weit offenem Mund.
«Du hättest nicht sechs Stunden sagen sollen, Lulu – da kriegt sie ja eine ganz falsche Vorstellung. Sechs Stunden sind es nur dann, wenn du fünf davon verplemperst.»
Lulu ging nicht darauf ein. «Daniela hat total Mitleid mit mir. Sie wollte wissen, wann ich noch Zeit für was anderes habe. Ich hab ihr gesagt, ich habe eigentlich nie Zeit für irgendwas Nettes, weil ich Chinesin bin.»
Ich biss mir auf die Zunge. Lulu sicherte sich stets Verbündete, scharte ihre Truppen um sich. Es war mir egal. In Amerika ergriff sowieso jeder Partei für sie. Gruppenzwänge beeindruckten mich nicht. Bei den wenigen Malen, die ich nachgab, hatte ich es später bereut.
Einmal zum Beispiel erlaubte ich Sophia, zu einer Geburtstagsparty mit Übernachtung zu gehen. Es war eine Ausnahme. In meiner Kindheit pflegte meine Mutter zu sagen:«Wozu musst du bei anderen Leuten übernachten? Was hast du gegen deine Familie?» Als Mutter vertrat ich denselben Standpunkt, aber diesmal sagte Sophia, es sei der Geburtstag ihrer besten Freundin, und bettelte so lange, bis ich endlich nachgab. Am nächsten Morgen war sie nicht nur übernächtigt (und unfähig, gut Klavier zu üben), sondern auch übellaunig und elend. Offensichtlich sind solche Partys für die meisten Kinder nicht nur kein Spaß, sondern eine Art Strafe, die Eltern ihren Kindern unabsichtlich durch Nachgiebigkeit zufügen. Nachdem ich Sophia ausgequetscht hatte, kam Folgendes heraus: A, B und C hatten D ausgeschlossen; B hatte über E hinter deren Rücken Gemeinheiten verbreitet; und die zwölfjährige F hatte die ganze Nacht mit ihren sexuellen Heldentaten geprahlt. Sophia hatte es nicht nötig, mit den übelsten Auswüchsen der westlichen Gesellschaft konfrontiert zu werden, und ich war nicht gewillt, aufgrund von Platitüden
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