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Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs

Titel: Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs Kostenlos Bücher Online Lesen
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wie «Kinder sind nun mal neugierig» oder «Sie müssen selber ihre Fehler machen» in meiner Wachsamkeit nachzulassen.
    Die Chinesen machen vieles anders als die Menschen aus dem Westen. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Zusatzaufgaben bei Tests. Einmal kam Lulu von der Schule nach Hause und erzählte von einer Mathearbeit, die ihre Klasse an dem Tag geschrieben hatte. Es sei ihr ausgezeichnet gelungen, erzählte sie, und deshalb habe sie es nicht nötig gefunden, auch noch die Fleißaufgaben zu machen.
    Im ersten Moment begriff ich nicht. «Warum nicht?», fragte ich. «Warum hast du sie nicht gemacht?»
    «Ich wollte in die Pause.»
    Ein fundamentales Dogma des chinesischen Wesens lautet, dass man immer und grundsätzlich sämtliche Zusatzaufgaben macht.
    «Warum?», fragte Lulu, nachdem ich es ihr erklärt hatte.
    Genauso gut hätte sie fragen können, warum man atmet.
    «Meine Freunde machen sie alle nicht», fügte Lulu hinzu.
    «Das ist doch nicht wahr», sagte ich. «Ich bin hundertprozentig sicher, dass Amy und Junno die Fleißaufgaben sehr wohl gemacht haben.» Amy und Junno waren Lulus asiatische Mitschülerinnen. Und ich hatte recht; Lulu räumte es ein.
    «Aber Rashad und Ian haben die Fleißaufgaben ebenfalls gemacht, und sie sind keine Asiaten», wandte sie ein.
    «Aha! So und so viele Freunde von dir haben die zusätzlichen Aufgaben also gemacht! Ich sage ja überhaupt nicht, dass nur Asiaten Fleißaufgaben machen. Jeder, der gute Eltern hat, weiß, dass sich das so gehört. Ich bin schockiert, Lulu. Was wird dein Lehrer von dir denken? Statt deine Zusatzaufgaben zu machen, bist du in die Pause abmarschiert?» Ich war den Tränen nahe. «Zusatzaufgaben sind nicht Zusatz . Es sind einfach Aufgaben . Das ist es, was den guten Schüler vom schlechten unterscheidet.»
    «Och – aber die Pausen machen Spaß!», bot Lulu als letzten rettenden Einfall an. Jedenfalls machte sie seit diesem Tag immer die Zusatzaufgaben, wie Sophia. Manchmal bekamen die Mädchen dafür mehr Punkte als für die eigentlichen Testaufgaben – ein Aberwitz, der in China undenkbar wäre. Diese Zusatzaufgaben sind ein Grund, weshalb asiatische Schulkinder in den USA notorisch gute Noten bekommen.
    Mechanischer Drill ist ein weiterer Grund. Bei einem Multiplikationsgeschwindigkeitstest, den die Lehrerin der fünften Klasse jeden Freitag veranstaltete, wurde Sophia einmal Zweite. Sie hatte gegen einen koreanischen Mitschüler namens Yonsei verloren. In der darauffolgenden Woche ließ ich Sophia jeden Abend zwanzig Übungstests machen (mitjeweils 100 Aufgaben) und nahm dabei ihre Zeit. Danach wurde sie jedes Mal Erste. Armer Yonsei. Er kehrte mit seiner Familie nach Korea zurück, aber vermutlich nicht wegen des Geschwindigkeitstests.
    Weil sie mehr üben als alle anderen, sind asiatische Studenten auch an den Elitekonservatorien in der Überzahl. So beeindruckte Lulu Mr. Shugart jeden Samstag aufs Neue mit ihren raschen Fortschritten. «Du begreifst immer so schnell», sagte er häufig. «Du wirst eine große Geigerin.»
    Im Herbst 2005, als Lulu neun war, sagte Mr. Shugart: «Lulu, ich finde, du bist jetzt so weit, dass du es mit einem Konzert probieren kannst. Was meinst du – lassen wir die Suzuki-Bände mal eine Weile ruhen?» Er hatte Viottis Konzert Nr. 23 in G-Dur für sie ausgesucht. «Wenn du dich wirklich anstrengst, Lulu, dann wette ich, dass du beim Winterkonzert den ersten Satz vortragen kannst. Der einzige Haken ist», fügte er nachdenklich hinzu, «dass das Stück eine echt schwierige Kadenz hat.» Mr. Shugart war listig, und er kannte Lulu. Eine Kadenz ist ein virtuoser Einschub des Solisten eines Instrumentalkonzerts, meist gegen Ende des ersten Satzes, bei dem das Orchester schweigt. «Da kann man zeigen, was man draufhat», sagte Mr. Shugart, «aber diese Kadenz ist wirklich lang und schwer. Die meisten Kinder in deinem Alter wären dazu nicht imstande.»
    Lulu horchte auf. «Wie lang?»
    «Die Kadenz?», sagte Mr. Shugart. «Oh, sehr lang. Ungefähr eine Seite.»
    «Das werd ich schon schaffen», sagte Lulu. Sie hatte viel Selbstvertrauen und liebte Herausforderungen, solange sie ihr nicht von mir aufgezwungen wurden.
    Wir vertieften uns in den Viotti, und unsere Kämpfe eskalierten. «Reg dich ab, Mama», pflegte Lulu regelmäßigzu sagen, womit sie mich wahnsinnig machte. «Gleich wirst du hysterisch, und dann atmest du wieder so komisch. Wir haben doch noch einen Monat zum Üben.» Ich konnte

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