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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brett Mcbean
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von ganzem Herzen, Filmstar oder Cowboy zu werden (keine vollkommen abwegige Vorstellung, wenn man sich überlegte, was letztlich aus ihm geworden war). Seine Eltern waren in Albury, um Vorräte für die Farm zu kaufen, und Phil war bei seinem besten Freund zu Hause, sodass es nur George und seinen nervigen kleinen Bruder gab. George war von seinen Eltern damit beauftragt worden, auf Davey aufzupassen. Sie hatten ihm gesagt, dass er für Davey verantwortlich sei und dass er das nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. George wusste, was es bedeutete, Verantwortung zu übernehmen, denn er hatte schon früher auf Davey aufgepasst, wenn seine Eltern unterwegs waren und Phil sich irgendwo anders herumtrieb, doch er nahm diese Aufgabe nie allzu ernst. Was konnte denn schon groß passieren? Sie lebten auf einer Farm, der Hume war weit weg, und alle Farmwerkzeuge waren im Schuppen eingeschlossen. Davey hatte im Jahr zuvor schwimmen gelernt, sodass keine Gefahr bestand, dass er im Bach ertrank. Es gab keinen Grund, weshalb er seinen Bruder die ganze Zeit im Auge behalten sollte - und davon abgesehen, hatte George sein Comic beinahe fertig, sodass er ruhig für eine Weile in sein Zimmer gehen und es zu Ende lesen konnte, während Davey draußen spielte.
    George wischte sich die Tränen weg, als er sich an den Augenblick erinnerte, in dem ihm zum ersten Mal aufgefallen war, dass er Davey schon eine Weile nicht mehr hatte lachen hören. Er hatte das aufgeklappte Comic verkehrt herum abgelegt, auf der Seite geöffnet, auf der er sich gerade befand, damit er später gleich weiterlesen konnte, und war zum Fenster hinübergegangen. Was stellt das kleine Ungeheuer jetzt wieder an?, dachte er, und dann sah er Davey auf dem Boden liegen, völlig reglos.
    Sicher spielte er nur. Aber selbst damals, als sorgloser Achtjähriger, der ganz gut in der Schule und beim Sport war, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Davey konnte niemals so lange stillhalten, schon irgendein vorbeiflatternder Schmetterling hätte ihn abgelenkt, oder es wäre ihm einfach zu langweilig geworden.
    George hatte lange Zeit am Fenster gestanden, oder zumindest hatte es sich lange angefühlt. Vermutlich waren es in Wirklichkeit nur ein paar Herzschläge gewesen, bevor er in den hellen Sonnenschein hinaus zu seinem Bruder rannte.
    Als er an diesen Tag zurückdachte, wollte George sich nicht lange damit aufhalten, wie sein Bruder ausgesehen hatte, als er dort im verbrannten Gras lag. Er hatte die Erinnerung daran nicht verdrängt, wie Menschen es oft bei traumatischen Ereignissen tun, sondern sie absichtlich weit in die hinterste Ecke seines Bewusstseins verbannt. Das musste er, sonst hätte er im alltäglichen Leben nicht funktioniert.
    Aber als er durch das schmutzige Fenster hinausschaute und die Stimmen von seiner Frau und Krista sehr weit entfernt wirkten, stieg das Bild doch vor seinem inneren Auge auf.
    Davey, der aussah, als schlafe er, sein Gesicht ganz geschwollen und voller Flecken.
    Davey, gestorben an einer allergischen Reaktion auf einen Bienenstich. Tot, weil George nicht auf ihn aufgepasst hatte, wie man es ihm aufgetragen hatte.
    Wenn ich bloß nicht dieses Comic gelesen hätte. Wenn ich doch nur auf ihn aufgepasst hätte, dann hätte ich schneller Hilfe holen können.
    Wenn, wenn, wenn ...
    Aber George hatte nicht auf Davey aufgepasst, und er hatte nicht schnell genug Hilfe geholt, und jetzt, dicht an dicht mit dem Tod, 66 Jahre später, fragte er sich, ob Davey so viel Angst vor dem Sterben gehabt hatte wie er selbst, und auf eine ganz seltsame Art fühlte sich George seinem kleinen Bruder näher als jemals zuvor.
    Als die Erinnerungen verblassten und er wieder in die Realität zurückkehrte, erkannte er im Fenster das blasse Spiegelbild von Krista, die im Türrahmen stand, und in dem Moment wurde ihm klar, weshalb sie ihm so nahe ging und was an ihr ihn so sehr aus der Fassung brachte: Wenn er Krista ansah, dann sah er sich selbst. Den gleichen tiefen Kummer, dieselbe Schuld, dieselbe Krankheit, dieselbe Angst.
    Deshalb wusste er auch, dass sie in Bezug darauf gelogen hatte, wie ihre Tochter gestorben war. Niemand trägt diese Düsternis in sich, wenn er eine geliebte Person durch etwas verloren hat, das außerhalb seiner Kontrolle lag.
    Er kannte ihre wahre Geschichte nicht, und sie interessierte ihn auch nicht besonders; auch sie starb, das konnte er jetzt sehen, wenn auch nicht an Krebs. Etwas anderes fraß sie von innen auf, etwas ebenso

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