Die Mutter
wichtig für ihn gewesen, doch jetzt vermochte er sich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war.
Er ging auf den Kleiderschrank zu.
»Ich hab doch nur Spaß gemacht«, sagte Martha. »Mir ist egal, was da drin ist.«
»Nein, ich weiß noch, dass ich etwas da drin versteckte habe, in einem Geheimfach - oder zumindest hinter einem losen Brett, das ich für ziemlich geheim hielt. Du weißt ja, wie Siebenjährige bei so was sind.«
»Was hast du denn versteckt?«
»Ich erinnere mich nicht. Eine Karte oder Spielzeug: irgend so was.« George öffnete die linke Schranktür, dann die rechte. Im Schrank waren nicht so viele Spinnweben, wie er erwartet hatte, nur ein paar in den oberen Ecken und eine unten rechts. Die Regalbretter waren mit einer pelzigen Schmutzschicht bedeckt, und der Staub kitzelte ihn im Hals. Er begann zu husten. Seine Brust verkrampfte sich vor Schmerzen.
»Komm, Liebling, vielleicht sollten wir doch besser gehen. Dieser ganze Staub kann nicht gut für dich sein.«
George brauchte dringend etwas Wasser, aber er hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er, als er aufgehört hatte zu husten.
Er wusste, dass das, war er hier versteckt hatte, schon längst von den ehemaligen Bewohnern entfernt worden sein konnte, aber es bestand noch immer die Möglichkeit, dass niemand das Brett entdeckt hatte. Er tastete die Rückwand des Schranks ab und erinnerte sich wieder, wo sich das lose Brett befand. Für ein paar Augenblicke glaubte er, jemand habe es repariert, aber nach
ein paar Versuchen fiel das Brett aus der Wand. Er zog es heraus, steckte seine Hand in das Loch und hoffte, auf keine unfreundliche Ratte oder Spinne zu treffen. Das Loch war nicht so tief wie in seiner Erinnerung und es dauerte nicht lange, bis seine Finger über etwas glitten, das sich wie ein Stück Papier oder ein Foto anfühlte. Er griff danach, zog seine Hand wieder aus dem Loch und schaute sich an, was er all die Jahre dort versteckt hatte. »Nun?«, fragte Martha.
George starrte das zerknitterte und leicht verblasste Foto an. Er musste schlucken. Tränen strömten über seine Wangen. Wie hatte er das nur vergessen können? Wie hatte er nur etwas so Wichtiges und Persönliches zurücklassen können? »George? Was ist denn?«
Ihm fiel alles wieder ein: die Trauer, nachdem Davey gestorben war, die Schuld, die er gefühlt hatte, der Schmerz, der Verlust. Er hatte das Foto von sich und seinem kleinen Bruder an sich genommen und es in dem Geheimfach im Schrank versteckt, wo niemand es finden und er es jederzeit ansehen konnte, Tag und Nacht, in seinem Zimmer, in dem er weinen konnte, wenn niemand ihn sah.
Er hielt das uralte Schwarzweißfoto in seinen kalten, zitternden Händen, die Tränen warm auf seinen eisigen Wangen, unfähig, zu sprechen, während die Trauer über Daveys Verlust zu schnell und zu heftig wieder über ihn hereinbrach.
Er bemerkte, dass Martha zu ihm herüberkam, obwohl sie wie eine schattenhafte Gestalt aussah.
»Lass mich mal sehen«, sagte sie mit ihrer sanftesten, liebevollsten Stimme.
Er wollte nicht loslassen. Er wollte das Foto für immer festhalten.
Aber er war schwach, und es fiel Martha nicht schwer, ihm das Foto aus der Hand zu nehmen. Er hörte, wie seine Frau einatmete.
»Oh, Schatz. Oh, schau dir das an ... Ist das nicht süß? Oh, George.«
Er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören - sie fand es niedlich, süß, dass er ein Foto von sich und Davey versteckt hatte, auf dem sie beide Grimassen in die Kamera schnitten.
George fand es alles andere als süß.
»Das ist George, da war er ungefähr acht, mit seinem jüngeren Bruder Davey«, wandte Martha sich an Krista. »Er muss damals ... oh, wie alt muss er da gewesen sein, George?«
George ignorierte die Frage seiner Frau und trat ans Fenster hinüber.
Er schaute hinaus auf die Wiese, herrlich grün vom hohen Gras, aber sie hatte nicht immer so ausgesehen. An dem Tag, als Davey gestorben war, war sie braun und ganz kurz gemäht.
Bevor George in Gedanken zu diesem Sommertag vor 66 Jahren zurückreiste, hörte er seine Frau zu Krista sagen: «... ungefähr fünf oder sechs. Das arme Kind wurde von einer Biene gestochen - niemand wusste, dass er allergisch gegen sie war...«, und dann war er wieder acht Jahre alt, lag auf seinem Bett, völlig gefesselt von der neuesten Ausgabe von Unheimliche Geschichten. Es war das Jahr 1938, und er hatte noch nicht beschlossen, einmal Polizist zu werden, sondern wünschte sich
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