Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
unteren Teil des anderen Kanals und schlug als Erstes mit dem Brustkorb auf, sodass ihm die Luft wegblieb.
Der Aufprall ließ eine Ratte hochschrecken, die am Rand des Kanals in Abfällen herumgewühlt hatte. Sie sah hoch, eine halb zerkaute Made im Mund, und erblickte einen Menschenjungen, der sich an den Rand der Wasserstraße klammerte und Mühe hatte, sich daran hochzuziehen. Die Mühe währte nicht lange, denn der Junge rutschte beinahe augenblicklich wieder zurück in Richtung des Abgrunds. Die Ratte sah zu, wie der Junge sich mit den Fingern an den Boden des steinernen Kanals klammerte und versuchte, sich festzuhalten. Nach einem kurzen, aber wackeren Versuch verschwand der Junge. Die Ratte, die davon ausging, dass der Mensch zu Tode gestürzt war, widmete sich wieder ihrer Wühlerei.
Balthasar hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er es geschafft hatte, sich festzuhalten. Im Grunde hing er an dem Kies unter seinen Fingernägeln und trat mit den Beinen ins Leere. Versuchte, auf einer nicht existenten Oberfläche Fuß zu fassen. Schau nicht runter. Es ist sehr wichtig, dass du dem Drang widerstehst …
Er sah nach unten. Es waren dreißig Meter bis zu der harten Kiesstraße, doch es hätte ebenso gut eine Meile sein können. Unter sich erblickte er einen Haufen behauener Steinblöcke, die darauf warteten, nach oben gehievt zu werden. Er sah sich schon abstürzen, auf diese Blöcke knallen . Fühlte, wie seine Hirnmasse in seinen zerschmettertem Schädel gequetscht wur…
Schau nach oben, du Idiot!
Balthasar hob die linke Hand zu der Brücke empor und packte zu. Seine dürren Arme zitterten, während er zog und versuchte, sich wieder nach oben zu zerren, versuchte, nicht auf die brennenden Schmerzen in seiner leeren Lunge zu achten. Er schwang die Beine vor und zurück und nutzte den Schwung, um seinen Körper nach oben zu wuchten. Und es funktionierte. Mit jedem Mal Schwingen schaffte er es, ein kleines Stückchen mehr von dem Kanal über sich mit den Händen zu ergreifen, bis es ihm endlich gelang, die Ellbogen über den Rand zu bekommen und sich den restlichen Weg nach oben zu winden.
Das dritte Wunder …
Er blieb einen Augenblick auf dem Bauch liegen, das Gesicht auf dem Stein, und holte Luft, ohne zu bemerken, dass er eine Ratte verscheucht hatte. Balthasar stand auf – schwer atmend und mit blutigen Fingern –, da ihm in den Sinn kam, dass seine Verfolger eventuell mit dem Gedanken spielen könnten, das gleiche Kunststück zu veranstalten und ihm auf diese Brückenseite zu folgen. Doch die Griechen dachten gar nicht daran. Sie standen bloß da und starrten ihn von der anderen Seite der unvollendeten Brücke her an, völlig verblüfft angesichts dessen, was sie eben mit angesehen hatten.
Balthasar war sich nicht sicher, warum er tat, was er als Nächstes tat. Vielleicht lag es an ihrem verwirrten Gesichtsausdruck, vielleicht war es ein Nebenprodukt der Angst – doch er warf ihnen ein Lächeln zu. Das gleiche selbstbewusste Lächeln, das viele seiner zukünftigen Verfolger zur Weißglut treiben würde, genau wie es die Griechen jetzt wütend machte, während er sich umdrehte und in die undurchdringliche Festung der Slums verschwand.
Insgesamt waren sie zu fünft: Balthasar, seine Mutter Asherah, seine jüngeren Zwillingsschwestern Melita und Tanis, beide neun, und sein Bruder Abdi, zwei Jahre alt.
Balthasar hing an seiner Mutter und irgendwie – auch wenn er noch herausfinden musste, auf welche Weise – liebte er seine Schwestern. Doch Abdi war sein Schatten. Sein Publikum. Sein Verehrer. Der Junge, der in jeder wachen Minute mit ihm spielen wollte, der über jede lustige Grimasse lachte, die er zog, und der – obwohl klein für sein Alter – genauso tapfer wie sein Bruder war. Wenn Balthasar sich jeden Morgen zum Forum aufmachte, lief Abdi ihm häufig nach, zupfte an seinem Bein und schrie: »Bal-fasa! Bal-fasa! Hier bleiben!«
Wenn Balthasar einmal nicht arbeitete, was nur selten vorkam, pflegten sie den Tag gemeinsam zu verbringen. Balthasar trug dann seinen Bruder die Kolonnadenstraße auf und ab und blieb stehen, damit sie sich Musikanten ansehen oder die seltsamen Tiere von jenseits des Himalaja streicheln konnten. Ab und an leistete er sich sogar eine Handvoll Zimtdatteln, die sie sich dann teilten, ihr kleines Geheimnis. Nachmittags nahm Balthasar Abdi immer mit an den Orontes, in den Schatten ihrer Lieblingspalme. Die mit dem tiefen Riss an der Seite des Stammes. Der wie eine Narbe
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