Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
aussieht. Und dort, im Schatten ihres heiligen kleinen Baumes, saß Balthasar dann und sah den Männern beim Angeln zu, während Abdi in seinen Armen ein Nickerchen machte und Balthasar mit den Fingern durch die braunen Haare seines Bruders fuhr. Manchmal döste er selbst auch ein.
Nachts, wenn sie sich alle fünf in einem Zimmer drängten, erzählte Balthasar Abdi immer ein paar der Geschichten, die er als Kind geliebt hatte: die Eroberungen von Alexander dem Großen und von Leonidas, die Schlachten von Karthago und Salamis. Und dann schliefen sie alle fünf, jeder auf seiner eigenen Strohmatte auf dem Lehmboden.
Bis vor zwei Jahren waren es sechs Matten gewesen.
Balthasars Vater hatte seinen Lebensunterhalt auf die gleiche Weise wie die meisten Männer aus der Nachbarschaft verdient: indem er heiße, anstrengende Tage damit verbrachte, in einem Steinbruch nördlich der Stadt auf Steine einzuhämmern. Das war eine der wenigen Arbeiten, die den syrischen Anwohnern noch erlaubt waren. Früher waren sie Bauern und Kaufleute gewesen. Doch dann war Rom über Antiochia hergefallen, und man hatte sie von den Feldern und Foren in die Slums vertrieben.
Die Bedingungen im Steinbruch waren gefährlich. Seile rissen. Winden fielen um. Ständig wurden Männer von schweren Trümmern getroffen oder von Felssplittern, die von losen Wänden abbrachen, in Stücke geschnitten. Manchmal wurden sie, wie Balthasars Vater, einfach unter Zwölf-Tonnen-Blocks zu Tode gequetscht, wenn eine hölzerne Winde versagte.
Balthasar hatte die Leiche seines Vaters nie zu Gesicht bekommen, und er war dankbar. Doch er hatte Beschreibungen von Männern gehört, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren war – deren Körper von dem Aufprall so gut wie zermatscht worden waren –, und er hatte sich unwillkürlich ausgemalt, wie sein Vater ausgesehen hatte, als man endlich jenen Stein von ihm hochhievte: jeder Tropfen Blut und Galle und Pisse aus seinen Organen gequetscht, der Inhalt seines Magens und seiner Gedärme in einem grotesken Strahlenmuster um ihn herum explodiert, sein Gehirn durch seine Augenhöhlen gequetscht, und sein Schädel nur mehr ein Mosaik aus winzigen, zerborstenen Partikeln. In der einen Sekunde war er ein fleißiger Mann mit einem schalkhaften Sinn für Humor, einem sorgfältig gestutzten Bart und einer Vorliebe für Zimtdatteln gewesen. In der nächsten war er ein blutgetränkter Sack zertrümmerter Körperteile. Seine Existenz im Bruchteil eines Augenblicks ausgelöscht. Weil ein Seil gerissen war.
Durch die tragische Begebenheit war Balthasar der Herr des Hauses geworden. Der einzige Ernährer seiner Mutter und dreier Geschwister. Und seine Mutter hieß Balthasars Methoden zwar nicht gut, aber sie untersagte sie auch nicht.
»Stehlen ist eine Sünde«, hatte sie ihm seufzend erklärt, als sie von seinen Taschendiebstählen erfuhr, »aber zu verhungern ist eine noch viel größere.«
Allerdings hatte sie ihm Einhalt geboten, als sie von einer Methode erfuhr, die Balthasar sich selbst beigebracht hatte: sich einen Gebetsmantel anzuziehen, in den jüdischen Tempel zu gehen und Männer zu bestehlen, während sie tief ins Gebet versunken waren.
»Das ist eine Abscheulichkeit«, hatte seine Mutter gesagt, »ob man den Gott der Hebräer nun selbst verehrt oder auch nicht.«
Nach dem Auszahlen seiner Komplizen, der Belohnung für hilfreiche Tipps und den notwendigen Schmiergeldern reichten die Münzen, die Balthasar auf dem Forum klaute, kaum aus, sie alle zu ernähren und ihnen ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Es war kein Geld übrig für Luxus wie neue Kleidung oder Lampenöl oder Zuckerwerk. Keine Teppiche, um darauf zu sitzen oder Becher, um daraus zu trinken.
Und selbst die Versorgung mit dem Nötigsten wurde mit der Zeit immer schwieriger. Das Forum wurde zu gefährlich. Man erkannte Balthasar wieder, er wurde von den römischen Soldaten verhört, die auf der Kolonnadenstraße patrouillierten. Geldwechsler wurden allmählich zu nervös, um ihm Tipps zu geben. Erwischt zu werden konnte nämlich durchaus die Kreuzigung zur Folge haben.
Doch was konnte er schon tun? Taschendiebstähle waren das Einzige, worin Balthasar gut war – trotz des heutigen Fiaskos. Er wusste von ein paar Jungen, bloß wenige Jahre älter als er, die verhaftet worden waren, weil sie einen Geldwechsler ermordet und seine Geldvorräte gestohlen hatten. Er hatte diese Jungen seit seiner Geburt gekannt. Er kannte all ihre Eltern und
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