Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
hörte er einen der Griechen hinter sich schreien. »Ich werde dir eigenhändig die Arme aus den Gelenkpfannen reißen!«
Balthasar kannte jeden Zentimeter der vier quadratischen Blocks, aus denen der Bezirk namens Platanôn bestand – ein Irrgarten aus winzigen, dicht aneinandergedrängten Häusern und schmalen ungepflasterten Straßen, wo die meisten einheimischen Syrer der Stadt lebten. Er kannte jedes Gesicht in diesen Straßen, den Namen eines jeden Bewohners jedes einzelnen Hauses. Und er wusste, dass er sich bei allen darauf verlassen konnte, dass sie ihn vor den Griechen verstecken würden. Doch zuerst einmal musste er dorthin gelangen – und dazu bedurfte es eines kleinen Wunders.
Eigentlich drei kleiner Wunder.
Während Balthasar den trockenen Kanal entlanglief, wurden die breiten Kopfsteinpflasterstraßen und glänzenden Kolonnaden der Stadt zu den schmaleren Straßen und Häusern eines ärmlichen Vororts. Vor ihm hörten die Häuser unvermittelt am Rande einer dreißig Meter tiefen Schlucht auf, doch der Kanal ging weiter und führte über eine schmale, nicht fertig gebaute Brücke hinüber.
Die alte Brücke war kürzlich im Laufe eines Erdbebens eingestürzt, eine der Unannehmlichkeiten des Lebens in Syrien. Römische Ingenieure hatten das Wasser abgestellt, während sie eine neue Brücke errichteten. Ein Trupp hatte diesseits der Schlucht angefangen, ein anderer auf der gegenüberliegenden Seite. Der Plan lautete, dass sich die beiden Hälften der Brücke in der Mitte treffen sollten, und sie waren beinahe so weit. Nur noch sechs Meter fehlten. Am Rand der beiden Seiten stand je ein hölzerner Kran. Die ausgestreckten Kranarme hielten die Seile, mit deren Hilfe Steinblöcke nach oben gehievt wurden – die Seile, von denen Balthasar hoffte, dass sie ihn in wenigen Augenblicken in Richtung Freiheit tragen würden.
Das erste von Balthasars drei kleinen Wundern geschah: An der Brücke wurde heute nicht gebaut, auch wenn dies kaum als »Wunder« durchging angesichts des berüchtigt entspannten Tempos, mit dem die Römer an Bauvorhaben herangingen. Das zweite Wunder ereignete sich gleich im Anschluss: Das Seil, das von dem diesseitigen Kran herabhing, befand sich in seiner Reichweite. Jetzt musste ihm nur noch sein drittes Wunder gelingen: das herunterhängende Seil zu packen und sich sicher nach drüben zu schwingen.
Als Balthasar sich dem Rand der Schlucht näherte, verließ er die Straße und lief hinunter in den Kanal, auf die unfertige Brücke hinaus. Die Männer waren jetzt so nahe, dass sie fast seine Kleider berühren konnten.
Du kannst es schaffen.
Als er auf das Ende der Brücke und das herabhängende Seil zukam, mobilisierte er die allerletzte Kraft, die er seinen spindeldürren Beinen entlocken konnte. Du kannst es schaffen, Balthasar. Und mit einem letzten Sprung packte er das Seil und schwang sich vom Ende der Brücke. Du kannst es schaffen. Guck einfach nicht nach unten, dann wirst du es …
Er würde es auf keinen Fall schaffen. Sobald Balthasar über der Schlucht hing, wusste er, dass er in Schwierigkeiten steckte. Die Entfernung zwischen den beiden Seiten war doppelt so groß, wie es von der Brücke aus gewirkt hatte, und nach unten fiel man doppelt so tief. Schlimmer war noch, dass sich der Ausleger des Krans, von dem er losgeschwungen war, nicht in der Mitte zwischen den beiden Brückenabschnitten befand – er befand sich viel näher an der Seite, von der er losgeschwungen war. Als er den Tiefpunkt seines Bogens erreichte, sah sich Balthasar auf einmal mit zwei unappetitlichen Alternativen konfrontiert: Entweder konnte er sich an dem Seil festhalten und auf die Seite zurückkehren, von der er losgeschwungen war – der Seite, auf der zwei große Männer auf ihn warteten –, oder er konnte loslassen und springen. So oder so würde es heute keine weiteren Wunder mehr geben.
Er ließ los.
Wieder einmal eine Entscheidung, die er auf der Stelle bereute. Er würde es nicht auf die andere Seite schaffen. Jedenfalls würde er nicht auf den Beinen landen. Es bestand eine Chance – der Hauch einer Chance –, dass er den Rand der anderen Brücke mit den Fingerspitzen erreichen könnte. Balthasar strampelte beim Fliegen mit den erschöpften Beinen, als würde ihn das Laufen in der Luft weiter nach vorn bringen.
Ich falle.
Er streckte die Arme vor sich aus, als die unebenen, nicht fertig behauenen Steine der anderen Brückenseite auf ihn zugerast kamen. Doch er knallte gegen den
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