Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
schwarz-weiß gefleckten Ziege und einer dünnen Schicht Heu und Mist befand sich eine junge Frau, die einem Baby den Mund zuhielt. Maria schrie, als der Offizier hinten an ihrem Gewand zog und versuchte, sie hervorzuschleifen.
Josef entzog sich dem Griff der Soldaten, rannte auf den Offizier zu und sprang ihm auf den Rücken. Er legte ihm einen Arm um die Kehle und zog, so fest er konnte, auch wenn er wusste, dass ihm jeden Moment ein Schwert von hinten in den Leib gerammt werden würde. Es war egal. Sollten sie ihn doch erstechen. Bis sie es taten, würde er weiter zudrücken – diesen Mann bis zum letztem Atemzug würgen in der Hoffnung, dass Maria sich vielleicht befreien und wegrennen konnte.
Der Offizier ließ sein Schwert fallen und packte Josefs Arm mit beiden Händen. Es gelang ihm, eine Hand unter Josefs Arm zu zwängen und ihn wegzuziehen. Als er wieder Luft bekam, hatte er auch die Kraft, Josef über seinen Rücken zu schleudern, hinein in die Box zu dessen Frau und Baby. Rasch suchte der Offizier am Boden nach dem Schwert, das er fallen gelassen hatte …
Doch es war verschwunden.
Er drehte sich um und fand sich zwei Männern gegenüber, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Zwei Männern, die zu beiden Seiten des Geistes von Antiochia standen. Eben der Geist von Antiochia, den er gefangen und von Bethel zum Palast des Herodes geschleppt hatte. Eben der, der ihm ein besseres Leben hätte bescheren sollen. Außerdem erblickte er auf dem Stallboden die Leichen seiner Männer mit durchschnittenen Kehlen.
»Aber du … du solltest doch tot sein«, sagte der Hauptmann.
Aber das bin ich doch auch , dachte Balthasar. Begreifst du denn nicht? Ich bin tot.
Balthasar schnitt dem Hauptmann die Kehle durch.
Josef kletterte hinten auf Melchyors Kamel. Caspar ließ sein Kamel in die Knie gehen und half Maria, das Neugeborene in ihren Armen, auf den Rücken des Tieres. Balthasar ritt allein, in jeder Hand ein Schwert.
Sie konnten es schaffen, wenn sie jetzt losritten. Wenn sie die Straße überquerten und weiterritten, direkt in die Wüste. Doch jene Schreie hallten immer noch durch ganz Bethlehem. Es waren immer noch Dutzende Soldaten unterwegs, die ein Haus nach dem anderen durchsuchten. Kinder umbrachten, die kaum Zeit auf Erden verbracht hatten. Mütter und Väter, die alles versuchten, um sie zu retten. Jetzt, in diesem Augenblick.
Das Geschrei hörte einfach nicht auf. Erst wenn die Zeit selbst aufhörte. Man bekam solche Laute nicht aus den Ohren. Nicht vollständig. Nie vollständig. Sie würden immer da sein, als leises Flüstern in jenem unterirdischen Kerker in seinem Gehirn, in den alles Schlimme gehörte. Balthasar wusste es. Genau wie er wusste, dass sie es schaffen konnten, wenn sie jetzt losritten. Genau wie er wusste, dass es unmöglich war, alle zu retten. Und dennoch brachte er es nicht übers Herz, sich von der Stelle zu rühren.
Caspar las es von seinem Gesicht ab. Von der Art, wie er die Zügel gepackt hielt, bis seine Knöchel weiß hervortraten, und nach Süden in das Dorf starrte. »Balthasar … wir können entweder sterben bei dem Versuch, sie alle zu retten, oder wir können das eine hier retten, solange noch Zeit ist.«
Caspar hatte natürlich recht. Balthasar hatte schon früher vor dieser Wahl gestanden. Der Wahl, einen ehrbaren Tod zu sterben oder zu leben und einen weiteren Tag als Feigling zu kämpfen. Die Versuchung des Todes konnte schier überwältigend sein. Die Versuchung, sich von der Wut packen zu lassen, sich einer neuen, herrlichen Daseinsweise zu verschreiben. Kurz und hell aufzuflammen. Doch es war bloß eine Illusion. Denn egal, wie viele man in jenen letzten Augenblicken umbrachte, es würden niemals so viele sein, wie man im Laufe der Zeit umbringen konnte. Das war der Trick bei der Sache. Je länger man lebte, desto mehr von ihnen konnte man letztlich umbringen. Es war leicht, eine solche Wahrheit zu vergessen, wenn die Wut einem ein Loch in den Bauch brannte.
Es war noch Zeit. Er würde dieses eine Kind retten. Er würde einen weiteren Tag als Feigling kämpfen. Und eines Tages würde er ihre ganze Welt einäschern. Vielleicht würde er dann sogar jene Schreie aus seinen Ohren bekommen. Das schwor sich Balthasar und trat seinem Kamel in die Flanke.
Diesmal würden sie direkt in die Wüste reiten. Sie würden ihre Kamele so schnell antreiben, wie es nur ging, und sie würden nicht langsamer werden, bis sie Qumran erreicht hatten. Die Essäer würden ihnen
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