Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
Zerbrechliches anvertrauen sollte. Doch er hatte etwas an sich, etwas, das ihn älter als seine sechs Jahre erscheinen ließ.
»Sehr vorsichtig, und nur eine Minute.«
Sie reichte ihm behutsam das Baby, und Johannes nahm es mit der gleichen Sorgfalt entgegen. Er wiegte den Säugling. Hielt ihn an seiner Schulter und rieb ihm mit der Hand über den Rücken. Er wiegte das Baby sanft hin und her, genau wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte. Und als der Säugling das Köpfchen an seine Schulter legte, neigte Johannes seinen Kopf in dessen Richtung.
Jahrzehnte später, als er als Johannes der Täufer bekannt war, befahl Herodes’ Sohn Antipas, eben diesen Kopf abzuschlagen. Doch davon war noch nichts zu spüren. Nichts von der Marter und dem Tod, die ihnen beiden in naher wie auch ferner Zukunft bevorstanden. Nichts von dem Ruhm und dem Leid. Da waren nur ihr leiser Atem und die Laute des bewusstlosen Mannes, der nebenan stöhnend nach Luft rang.
Balthasar schlug die Augen auf und schrie, doch das Geräusch wurde von Wasser verschluckt. Mit der Luft drangen Bläschen in seine Lunge. Er war am Ertrinken. Kämpfte sich auf den Sonnenschein zu, der durch den Schlick drang. Mit einem letzten Beinschlag gelangte er an die Oberfläche und sog eine Mischung aus Wasser und Luft ein, die ihm heftigen, schmerzhaften Husten verursachte, aber die Kraft gab, ans nächste Ufer zu schwimmen. Er zog sich mühsam mit den Fingerspitzen auf den Sand, immer noch Wasser aus seinen Lungen aushustend.
Fingerspitzen .
Balthasar betrachtete seine Hände in der Erwartung, abgeschälte Haut und aufgerollte Blutgefäße zu sehen. Doch sie waren heil. Jeder andere Körperteil auch. Als sein Atem wieder regelmäßig ging, hob er den Kopf und sah sich durch nasse schwarze Haarsträhnen hindurch um. Über ihm, lediglich ein paar Meter vom Flussufer entfernt, befanden sich reihenweise hoch emporragende Säulen und steinerne Pharaonen – jedes einzelne Stück kunstvoll gemeißelt, und jedes erzählte eine andere Geschichte von den Triumphen eines anderen Pharao.
Links von sich erblickte Balthasar einen hölzernen Kahn, der, mit Gütern beladen, in der Mittagssonne den Nil abwärtssegelte. Am gegenüberliegenden Ufer waren Fischer zu sehen, die ihre Leinen auswarfen. Manche von ihnen ruhten sich im Schatten von Palmen aus, genau wie er und Abdi es vor Jahren getan hatten.
»Hey!«, rief er über den Fluss. »Hey, hier drüben!«
Obwohl die Fischer sich durchaus in Hörweite befanden, ignorierten sie den durchnässten Mann, der am gegenüberliegenden Ufer stand, genau wie sie ihn ignoriert hatten, als er zu ertrinken drohte.
Allerdings beachteten sie die Fische.
Ein Fisch nach dem anderen trieb an die Oberfläche – manche panisch zappelnd, andere einfach mit dem Bauch nach oben. Bevor Balthasar so recht wusste, was hier los war, stieß auf einmal ein Fischer, der bis zu den Knien im Fluss watete, einen Schrei aus und eilte ans Ufer zurück. Balthasar bemerkte Blasen an den Beinen des Mannes, als dieser das Wasser verließ, ebenso Dampf, der von der Wasseroberfläche aufstieg. Der Fluss fing an zu sieden. Tigerfische, Welse und Flussbarsche trieben zu Hunderten auf die Oberfläche zu. Bei lebendigem Leib im Fluss gekocht.
Die Nacht brach unnatürlich schnell herein, die Sonne zog sich in den Westen zurück, verängstigt von dem, was sie unter sich erblickte. Die Welt verdunkelte sich vor Balthasars Augen und der Nil ebenfalls. Doch nicht aufgrund eines Mangels an Licht. Der Fluss färbte sich dunkel, weil er blutete.
Ein roter Fluss.
Jetzt hing nur der Mond oben am Himmel und tauchte Ägypten in seinen hellen, grauen Schein. Doch heute Nacht war etwas anders. Etwas stimmte nicht. Da waren seltsame Linien auf seiner Oberfläche, und sie verbreiterten sich zusehends.
Der Mond brach auseinander.
Wie ein grauer Teller, der langsam auf einem schwarzen Marmorboden zerbarst, brachen Stücke ab und fielen vom Himmel, jede Scherbe so groß wie ein Berg. Die Stücke regneten auf das gegenüberliegende Ufer nieder – ganze Städte fielen vom Himmel und ließen die Erde mit jedem unmöglichen Aufprall erbeben. Entsetzt rannten die Fischer um ihr Leben, als eines der Stücke weniger als eine Meile von ihrem Aufenthaltsort entfernt zu Boden krachte. Doch Balthasar rührte sich nicht. Er wusste es. Er wusste, dass das alles bloß eine Sinnestäuschung war. Man brauchte nicht wegzulaufen, noch nicht einmal, als ein anderer Splitter am Nachthimmel
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