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Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Titel: Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seth Grahame-Smith
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Obelisken und Pyramiden. Und diesen Ort hatte er schon einmal mit eigenen Augen gesehen. Er hatte zu diesen drei Schwestern emporgeblickt – diesen Pyramiden, die in ihrer Herrlichkeit ganze Kaiserreiche in den Schatten stellten. Doch er hätte nie gedacht, dass er sie einmal, so wie jetzt, von oben sehen würde.
    Der Mann mit Flügeln setzte Balthasar behutsam auf der Spitze einer Pyramide ab, der gewaltigsten der drei. Das höchste Bauwerk auf der Welt, und zwar schon seit zweieinhalbtausend Jahren. Doch die Pyramide zerfiel allmählich, denn die weißen Steine an ihren vier Seiten zerbröckelten seit Jahrhunderten. Manche Abschnitte waren immer noch vollkommen glatt. Andere waren abgebrochen und nach unten in den Sand gestürzt, sodass die dunkleren Steinblöcke darunter zum Vorschein kamen.
    Als jene weißen Flügel nicht mehr schlugen, sondern sich hinter dem Rücken des Mannes zusammenfalteten, sah Balthasar zum ersten Mal sein Gesicht. Bei dem Anblick wich sämtliche Kraft aus seinen Beinen. Er weinte, bei jedem Schluchzen am ganzen Körper erbebend. Balthasar wusste nicht, wann er das letzte Mal so heftig geweint hatte. Er konnte sich nicht erinnern, je etwas derart Schönes gesehen zu haben.
    »Wie?«, fragte er unter Tränen.
    Der Mann mit Flügeln breitete die Arme aus und ließ Balthasar seine Hände sehen. Die Hände, mit denen er Balthasar gehalten hatte. Sie waren rot verschmiert.
    Balthasar sah durch seinen Tränenschleier nach unten und bemerkte, dass sein Gewand über der Brust von dunklem Blut durchtränkt war. Panisch zog er den Stoff auseinander, weil er sich sicher war, dass er darunter auf eine groteske Wunde stoßen würde. Doch da war nichts. Nichts außer einem kleinen Kratzer mitten auf seiner Brust. Er hob den Blick, um zu sehen, ob der Mann mit Flügeln eine Erklärung hatte. Doch er war fort. Keine Spur von ihm am Himmel. Balthasar war allein auf dem Dach der Welt.
    Etwas traf ihn am Fuß. Ein Tröpfchen.
    Er sah wieder auf seine Brust. Der Kratzer fing zu bluten an. Bloß ein paar Tropfen, wie die Tränen auf seinen Wangen. Doch es wurde immer mehr. Erst ein langsames Tröpfeln, dann ein steter Strom – das Blut rann seine Brust hinab auf seinen Bauch, sammelte sich in seinem Nabel und quoll über. Ein roter Fluss.
    Der Kratzer riss langsam auf. Die Haut brach auf wie Leder, sodass Muskulatur und Rippen und Lungenflügel zum Vorschein kamen. Brach auf, bis darunter sein Herz sichtbar wurde, immer schneller pochend … schneller. Balthasar packte die beiden Hälften seiner Brust und versuchte, sie wieder zusammenzuziehen. Versuchte, alles an seinem angestammten Platz zu halten.
    »Nein!«
    Seine Rippen spreizten sich, jede einzelne erwachte und bog sich nach außen wie die Beine einer weißen Spinne. Balthasar ließ seine Haut los und versuchte, die Rippen zurückzubiegen. Ohne Rippen würden die Organe folgen. Alles würde aus ihm hervorquellen, und er würde für immer hierbleiben – ein Häufchen Knochen und Organe und Haut auf dem Dach der Welt. Er drückte, so fest er konnte, doch die Spinne ließ sich ihre Freiheit nicht nehmen. Während Balthasar zudrückte, fiel ihm auf, dass sich seine Fingernägel aus den Nagelbetten lösten und sich die Haut von seinen Fingern abschälte, sodass die Blutgefäße darunter zum Vorschein kamen. Sie pulsierten mit jedem seiner Herzschläge.
    Das Gleiche passierte mit seinen Zehen … seinen Füßen. Seine Augenlider schälten sich ab, und er sah, wie ihm das Blut über die Hornhaut lief.
    Balthasar stürzte seitlich an der großen Pyramide hinab. Rollte hinunter, genau wie es so viele glatte Steinbrocken im Laufe der Jahrhunderte getan hatten. Er hinterließ eine Spur aus Muskeln und Sehnen und Blut und Knochen, während er in Stücke zerfiel. Jede einzelne Vene entrollte sich auf dem Weg nach unten und löste sich aus seinem Körper wie die Wurzeln eines großen Baumes, der aus der Erde gerissen wurde.
    Als er den Sand erreichte, war außer seiner Kleidung nichts mehr von ihm übrig.
    Zacharias war viel zu alt, um an Menschen herumzuschnipseln. Zu alt, um die Art von Operation durchzuführen, die dieser Mann benötigte. Er sah nicht mehr so gut wie früher. Seine Hände zitterten. Doch was blieb ihm anderes übrig? Welcher andere Chirurg könnte ihn noch rechtzeitig behandeln – beziehungsweise welchem Chirurgen könnte man vertrauen, dass er den Flüchtlingen, die den Mann brachten, Unterschlupf gewähren würde?
    Josef hielt die Lampe über

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