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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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Menschenmassen überflutet worden.
    Ich versuche, mir die Bilder vorzustellen, die Josef verschwenderisch malt. Aber der Platz bleibt leer. Wie kämen die Leute heute aus der Ferne in die Stadt, fragt er, und seine Augen bitten mich eindringlich um Antwort. Wo übernachten sie? Was trinken sie? Da entdeckt er eine Ruine, ein paar Säulen, wie ein Portikus ohne Sinn und Zweck in die Mitte des Platzes gestellt.
    Hinter dem kläglichen Rest Bahnhof erhebt sich ein riesiges Zelt. Die Ränder des Platzes sind teilweise mit neuen Häusern bebaut, schmucklose Klötze mit winzigen Fenstern, weißer Beton und glänzender Stahl. Wo Josef das Hotel Prinz Albrecht vermutete, ragen Hochhäuser in den Himmel. Er kapituliert, sinkt verzweifelt auf eine Bank, und meine Erklärungsversuche trösten ihn kaum.
    Manches deutet auf Krieg, anderes auf Frieden, vielleicht - so versuche ich es vorsichtig - sei auch einfach zu viel Zeit vergangen, daß er seine eigene Stadt nicht wiedererkennt. Das bringt Josef sofort wieder auf die Beine, und beleidigt marschiert er los, ich hinterher. An überwucherten Brachflächen geht es vorbei, dann über eine Brücke. Die sei der Landwehrkanal, erklärt er demonstrativ - auf jeden Fall die falsche Richtung. Aber hier beginne Schönberg, sein Kiez, wie er es nennt.
    Auf einer Bank am Ufer des Kanals sitzt ein Mann in der Frühlingssonne. Er muss etwa in unserem Alter sein, was Josef dazu verleitet, ihn mit frischem Mut anzusprechen: Er möge entschuldigen, aber da hinten habe doch früher das Völkerkundemuseum gestanden. Und ob er nicht wisse, wo man den Schliemann-Schatz jetzt bewundern könne.
    Was soll das, denke ich, als wenn es keine dringenderen Fragen gäbe! Dann aber durchschaue ich Stahls Absicht: Erstmals bekommen wir auf eine indirekte Frage eine direkte, ehrliche Antwort. Vielleicht war genau das unser Fehler bisher, daß wir unsere unterjochten Landsleute mit schmerzhaften oder gar verbotenen Fragen bedrängt haben.
    Der Mann lacht bitter auf: Den Schliemann-Schatz? Da müßten wir schon nach Moskau fahren. Freiwillig würden die Russen ihre Kriegsbeute bestimmt nicht rausrücken.
    Also doch: Iwan muß schon bis ins Herz des Reiches vorgedrungen sein, wurde aber vor wenigen Jahren wieder zurückgeschlagen, wie wir anderen vorsichtigen Andeutungen des Mannes entnehmen. Jahrzehntelang scheint die Stadt besetzt gewesen zu sein. Zweimal benutzt er sogar den Begriff Frontstadt und spricht von einer Teilung, was immer das bedeutet. Der Mann scheint gerne und viel zu reden. Nur bei Nachfragen, wer zum Beispiel derzeit die Verteidigung befehligt, schaut er uns zuweilen an, als würden wir für den Feind spionieren.
    Ob wir noch alle Tassen im Schrank hätten, fragt er schließlich und springt empört auf, nachdem ich mich höflich nach dem Sitz der Reichsführung SS erkundigt habe. Selbst von weitem zeigt er uns immer noch einen Vogel, als wolle er kaschieren, daß er sich eben noch ganz normal mit uns unterhalten hat. Ist es das, wovor die Kameraden auf dem Land gewarnt haben - daß in der Hauptstadt jeder Widerstand gegen Besatzer und Kollaborateure noch gefährlicher sei als anderswo?
    Eine Stunde laufen wir schweigend geradeaus, ohne uns an immer neuen Zeichen und Rätseln abzumühen. Alle größeren Straßen sind plötzlich mit diesen kleinen bunten Autos verstopft. Sie parken auch überall. Auf manchen Kreuzungen geht es weder vor noch zurück. War das nicht eine Idee des Führers, jedem Volksgenossen ein erschwingliches Automobil zu bauen? Wenn ja, scheint es im Nachhinein nicht seine beste gewesen zu sein.
    Wir sehen leere Häuser und frisch bemalte, durchqueren ganze Straßenzüge, in denen uns kein einziger arischer Landsmann begegnet, aber die trotzdem voller Leben sind. Die Zahl der Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter muß sich über die Jahrzehnte vervielfacht haben. Nur drehen sie nicht etwa Granaten in der Fabrik oder ihre Runden am Pflug, sondern bewegen sich frei und ungezwungen. Es drängt sich sogar der Eindruck auf, man hätte ihnen bestimmte Viertel ganz überlassen, wie seinerzeit in den Siedlungsgebieten im Osten: Sie unterhalten eigene Geschäfte, Gastwirtschaften und beschriften ihre Auslagen in fremden Sprachen. Russen. Araber. Auch Neger sind keine Seltenheit. Als wären sie aus allen Teilen der Welt über uns hergefallen.
    Josef meint, ob es damals Notwehr war oder nicht, spiele nach so vielen Jahren auch keine Rolle mehr. Ich sage dazu lieber nichts, aber nur um Streit

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